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Interview

Sibylle Berg: „Die Märkte regeln sich gerade in den Kollaps“

Sibylle Berg ist ein literarischer Paradiesvogel mit klugem Humor. Sie denkt in Sachen
Digitalisierung vor allem an den Kapitalismus. Am Berliner Ensemble kommt ihr neues Stück heraus: „Es kann doch nur noch besser werden“. Irene Bazinger hat mit der Dramatikerin und Schriftstellerin gesprochen – über KI und Blackout, über neoliberale Ökonomie, Solidarität und die Tendenz zur Autokratie, zum großen starken Führer.

Sibylle Bergs neues Stück am Berliner Ensemble heißt „Es kann doch nur noch besser werden“. Foto: Imago/Michael Eichhammer

Sibylle Berg: „Kann ein Aufenthalt im Metaverse eine Alternative zu mit Normaleinkommen finanzierbarem Wohnraum sein?“

tipBerlin Liebe Sibylle Berg, worum geht es in Ihrem Stück „Es kann doch nur noch besser werden?“

Sibylle Berg Die Geschichte ist eine Versuchsanordnung, ausgehend von den Fragen: Wieviel Digitalisierung verkraftet das Gehirn? Und: Kann ein Aufenthalt im Metaverse eine Alternative zu der durch Investmentfonds bedingten Knappheit an mit Normaleinkommen finanzierbarem Wohnraum sein? Das alles in Zeiten, in denen die meisten Menschen durch die Geschwindigkeit der Digitalisierung und den Eindruck, in einer Dauerkatastrophe zu leben, überfordert sind, und man nicht mehr weiß, an was oder wem man glauben soll.

tipBerlin Im Untertitel heißt es „Ein Stück mit Musik für diverse Leute“ – warum?

Sibylle Berg Teile der Besetzung standen bei der Entstehung des Stückes bereits fest: Der Musiker Olan Galactica, Meo Wulf, Sita Messer und Perra Inmunda, mit denen ich für einen VR-Film zu meinem letzten Buch zusammengearbeitet habe und die sich teils stereotypen Geschlechterzuordnungen entziehen. Außerdem kann das Stück in vielen verschiedenen Besetzungen inszeniert werden. Ich wollte die Wahl der Besetzung offenlassen, wie eigentlich sehr oft.

tipBerlin Könnte die Tendenz des Stücks lauten: Wir amüsieren uns nicht länger zu Tode, wir programmieren uns zu Tode?

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Sibylle Berg Programmieren ist eigentlich nicht das Problem. Coden ist großartig. Problematisch wird es, wenn Politiker:innen, die oft und verständlicherweise die Konsequenzen und die Reichweite von IT-Entscheidungen nicht überblicken können, Lobbyisten folgen. Wenn es erlaubt wird, dass eine Überwachungssoftware der US-Firma Palantir für die kritische Infrastruktur verwendet wird, wenn an einer E-ID und an digitalen Patientenakten herumgefrickelt wird oder wenn die EU eine Aushebelung der letzten Privatsphäre durch Chatkontrolle diskutiert. Fast alles, was man digitalisieren kann, stärkt zum einen den Einfluss von IT-Monopolen, die meist in Amerika zu Hause sind, lässt stromfressende Serverfarmen, so called Cloudspeicherung, wachsen, und macht Bürger:innen und Staaten extrem angreifbar, denn es gibt nichts im Cyberspace, was man nicht hacken kann. Da kann man lustige Firewalls installieren, soviel man will.

Das Problem mit der Digitalisierung ist also grob gesagt, dass es auf der einen Seite sehr große finanzielle Interessen gibt, auf der anderen den Reiz des komplett überwachten Bürgers. Und natürlich, dass es für uns einzelne immer schwerer wird, sich dem zu entziehen.

tipBerlin Alles geht in Ihrem Stück den Bach hinunter – könnte man sagen, wir alle sind „Die letzte Generation“?

„Ich halte wenig für schädlicher als die Befeuerung der Angstlust, die es seit einigen Jahren gibt“

Sibylle Berg Ich halte wenig für schädlicher als die Befeuerung der Angstlust, die es seit einigen Jahren gibt. Mit hysterischen Dauerkatastrophenmeldungen von Seiten der Regierung und der Medien besteht die Gefahr, unglaubwürdig zu werden, die Menschen in Depression, Resignation und Trotz zu treiben. Wozu soll das denn bitte gut sein, außer zur Stärkung populistischer Politik? Jede Epoche bot mannigfaltige Katastrophen, Seuchen, Kriege, und der Einfluss des Einzelnen auf globale Zusammenhänge ist doch sehr begrenzt. Wenn in der Dauerbeschallung statt Katastrophen, Elend, Untergang mehr über großartige Entdeckungen, faszinierende Wissenschaft und neue Wege, den Kapitalismus hinter sich zu lassen, berichtet würde, stürben die Menschen auch, das ist systemimmanent – aber vielleicht hätten sie wieder mehr Hoffnung.

„Der chinesische Yuan ist der neue Petroldollar, der Blackout die neue Sintflut“

tipBerlin In Zeiten der Digitalisierung ist Strom das neue Gold?

Sibylle Berg Um es total verrückt zu machen, gibt es angestellte Billiglohnarbeitende, die Chatbots performen, weil sie billiger als eine Programmierung sind. Auch Daten sind das neue Gold. Der chinesische Yuan ist der neue Petroldollar, der Blackout die neue Sintflut.

tipBerlin Trotz oder wegen des digitalen Bezugsrahmens gibt es in Ihrem Stück wieder sehr viel Kapitalismuskritik von Arbeitslosigkeit bis Obdachlosigkeit. So viel Zukunftspessimismus muss schon sein?

„Ich hoffe, dass die Tendenz zur Autokratie, zum großen starken Führer, vorübergehend ist“

Sibylle Berg Wo ist hier Zukunft? Pessimismus ist keines meiner Hobbys. Dass der Kapitalismus in der Form wie jetzt nicht mehr weiter existieren kann, dürfte inzwischen auch selbst Vögeln wie Tech-Plattform-Preppern klar sein. Es ist interessant zu beobachten, wie all die wunderbaren Lehren neoliberaler Ökonomen – etwa der Chicago Boys – in sich zusammenklappen. Die Märkte regeln sich gerade in den Kollaps. Also wie immer, nur öfter. Und die Anzahl der Gewinner aus den immer neuen Krisen wird immer kleiner, weil eines der Marktgesetze das Wachstum ist und das Ausschalten der trügerischen Konkurrenz, die angeblich das Geschäft belebt. Wir dürfen dem Schauspiel beiwohnen, ob das, was als nächstes kommt, eine Art digitaler Feudalismus oder etwas ganz Neues wird. Ich hoffe, dass die Tendenz zur Autokratie, zum großen starken Führer, vorübergehend ist.

tipBerlin Dennoch haben Sie Ihren Humor nicht verloren: Weltuntergang mit Witz?

Sibylle Berg Ich sehe unsere Zeit nicht als die schrecklichste aller Zeiten. Es ist Leben, es sind Menschen, die machen komische Dinge. Wenn man begreift, dass nichts auf der Welt passiert, um einen persönlich zu kränken, sondern dass man ein Teil der Mehrheit der Kleinbürger:innen ist, wird es doch schon wieder recht unterhaltsam. Und man könnte sich sogar so etwas Absurdes wie Solidarität leisten, wenn man erkennt, dass man nie zu einem Kapitalisten werden wird.

tipBerlin Die Künstliche Intelligenz hat in Ihrem Stück die IT-Fachleute ersetzt. Fürchten Sie, dass auch Sie in Bälde von KIs ersetzt werden, die Bücher, Stücke, Kolumnen wie Sie schreiben – genauso gut oder vielleicht noch besser?

Sibylle Berg Ich denke darüber nicht nach, sondern eher über die Unverfrorenheit, mit der sich Plattformheinis im Fall von ChatGPT und Dall-E 2 usw. menschliches geistiges Eigentum aneignen und in Profit und Bullshit umwandeln. In meinem Bereich ist die Konkurrenz durch eine zusammengeschluderte KI so groß wie die von Nachahmern. Das Problem ist vielmehr, dass ein Tool von Microsoft zunehmend eingesetzt wird, um Medien zu füllen, dass KI nach dem auch schon fragwürdigen Weltwissen in Wikipedia das neue allgemeingültige Lexikon wird, dass viele Menschen der Bequemlichkeit halber den Stuss glauben, den ein paar Code Lines ausspucken. Und dass die durch die Plattformen mit ihrem Aufmerksamkeitsdiebstahl fragmentierten Gehirne sowieso nicht mehr in der Lage sein werden, längere Texte bei sich zu behalten.

tipBerlin Menschen wie du und ich und alle anderen werden folglich nicht mehr gebraucht?

Sibylle Berg Wenn Politiker:innen weiter Milliarden in Militärausgaben pumpen und im Bildungssektor sparen, wird großen Teilen kommender Generationen nicht mehr auffallen, dass sie Stuss konsumieren.

tipBerlin Ist Ihr neues Stück mehr eine Dystopie oder eine Parodie?

Sibylle Berg Ich habe mit dem Begriff Dystopie nie etwas anfangen können. Es ist hoffentlich lustig.

tipBerlin Sie sind so unglaublich produktiv. Wie lange haben Sie an diesem Stück ungefähr gearbeitet?

Sibylle Berg Ich kann Ihnen das leider nicht mehr genau sagen. Ich erinnere mich nur noch, dass ich das ganze Stück Wochen nach der Abgabe nochmals komplett um- und neu geschrieben habe. Aber keine Ahnung mehr, warum.

tipBerlin Ist die Zusammenarbeit mit dem Berliner Ensemble für länger geplant?

Sibylle Berg Nach der Premiere am 21. September im Neuen Haus ist für nächstes Jahr noch ein Stück auf der großen Bühne geplant. Dann werden die Märkte entscheiden, ob die Hütte voll war oder nicht.

tipBerlin Von welchem Ort auf unserem Planeten schreiben Sie mir?

Sibylle Berg Ich befinde mich gerade im Keller.

tipBerlin Und alles ist wahr, was Sie mir mitgeteilt haben? Und die „Neue Zürcher Zeitung“, die Ihnen im Juni vorgeworfen hat, in Interviews mit der Wahrheit mehr als frei umzugehen, kann uns mal?

Sibylle Berg Ich kenne die „NZZ“ nicht. Ist das etwas wie „Der Postillon?“

tipBerlin Am Alexanderplatz sind an einer Baustelle Zitate prominenter Menschen plakatiert, unter anderem von Ihnen: „Benehmt euch anständig.“ Was wollen Sie der breiten Masse damit sagen?

Sibylle Berg Benehmt euch anständig!

  • Berliner Ensemble „Es kann doch nur noch besser werden?“ Do 21.9. (Premiere), 20 Uhr, Neues Haus, Sa 22., Sa 30.9., So 1.10., Karten 13–29 €, Tickets und mehr Informationen hier

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