Interview

„Stop-Zemlia“-Regisseurin Gornostai: Neues Bild der jungen Ukraine

Kateryna Gornostai erzählt in „Stop-Zemlia“ von jungen Leuten in der Ukraine. Ein Gespräch über das Erlernen von Toleranz und den Moment, in dem eine ganze Gesellschaft die Augen öffnet

„Stop-Zemlia“ von Kateryna Gornostai. Foto: deja-vu

Kateryna Gornostai: „Sie wären überrascht, was authentisch ist und was Drehbuch“

tipBerlin Frau Gornostai, Sie erzählen in „Stop-Zemlia“ von einer Gruppe Jugendlicher in Kyjiw. Gingen Sie von eigenen Erfahrungen aus?

Kateryna Gornostai Der erste Entwurf ging noch um meine Schuljahre, um 2004, also vor langer Zeit. Bald wurde mir klar, dass mein Film keine Vergangenheit rekonstruieren sollte, denn es verändert sich doch alles so rasend schnell. Es gibt inzwischen die Mobiltelefone, es gibt seit 2014 den Krieg, in Kyjiw sind viele, die aus der Ostukraine fliehen mussten. Also sollte es um Pubertät heute gehen. Es gab ein großes Casting, fast ein Jahr lang konnte man sich bei uns melden. Wir haben auch Schulen gecastet, denn ich suchte nach einer bestimmten Architektur.

In einer zweiten Phase haben wir Leute interviewt und mit ihnen alles Mögliche besprochen: Eltern, Freundschaft, Liebe, Tod. Dadurch hat sich das Drehbuch wieder verändert. 25 kamen schließlich in die engste Auswahl, und mit denen haben wir dann geprobt. Ich wollte niemand zu etwas drängen, sie sollten nicht etwas für mich machen, sie sollten nicht versuchen, sich bei mir oder beim Publikum beliebt zu machen. Es sollte nach Möglichkeit gar nicht um den Film gehen, sondern einfach um die Gruppe.

tipBerlin Man sieht die Figuren ab und zu vor einer leeren Wand sitzen und von sich erzählen. Das sind dann dokumentarische Momente?

Kateryna Gornostai Das ist auch Spielfilm. Aber sie sprechen auch über Dinge, die in ihrem Leben tatsächlich eine Rolle spielen. Sie tun das aber in ihrer Rolle im Film. Manchmal gab es aber Überschneidungen. Der Film ist in einem Dazwischen. Sie wären aber sicher manchmal überrascht, was authentisch ist und was Drehbuch.

Regisseurin Kateryna Gornostai. Foto: deja vu Filmverleih/Oleksandr Roshchyn

tipBerlin Von der Sowjetunion heißt es, sie wäre sexuell liberal gewesen. Wie schwer ist es heute für junge Menschen in der Ukraine, mit dieser Elterngeneration, aufzuwachsen und sich selbst zu finden?

Kateryna Gornostai Dieser Generationensprung existiert noch immer. Es fehlt viel Verständnis dafür, was queer ist. Wir wollten mit unserem Film ein neues Bild zeichnen. In Kyjiw ist das schon realistisch, was wir zeigen, für kleinere Städte und Dörfer wäre das anders. In Kyjiw ist das Level von Toleranz schon hoch. Wir zeigen sehr authentisch, wie diese Generation mit Klimakatastrophe oder mit Sexualität umgeht. In der ukrainischen Gesellschaft hat der Kampf um Rechte und um Sichtbarkeit von Sexualität starke Fortschritte gemacht. Viele neuere Filme aus der Ukraine zeigen aber auch das Gegenteil, da geht es um den Krieg, das geht es um traditionelle Werte, allerdings gingen auch viele LGBTQ+ an die Front und kämpfen dort an der Seite von Leuten mit sehr altmodischen Ansichten, das ist also ziemlich vielschichtig. Ich bin eine Optimistin, und wenn ich die Leute aus meinem Film sehe, könnte man auf eine gute Zukunft hoffen.

tipBerlin Wie wurde  der Film finanziert? Von der staatlichen Filmbehörde?

Kateryna Gornostai Wir haben von der State Film Agency die Förderung bekommen, mussten jedoch mit 80% des Budgets auskommen, weil keine Koproduktion funktioniert hat. 2019 haben wir gepitcht und die Finanzierung bekommen, das war im fünften Jahr nach der Revolution. Es waren fünf gute Jahre für das ukranische Kino nach 2014. Unser Projekt wurde zwischen Kino und Bildung eingeordnet. Wir hatten so etwas wie ein „patriotisches Pitching“, für mich ist aber jeder Film mit dem Thema Ukraine patriotisch, auch wenn er kritisch ist. Man geht mit dem Drehbuch durch verschiedene Stufen, bekommt Einschätzungen und Genehmigungen.

Inzwischen hat die Staatliche Filmagentur eine neue Leitung, die leider schwach ist. Die Invasion verrät uns viel über die Menschen, die Filmagentur hat sich seither als wenig produktiv gezeigt. Ukraine steht im Mittelpunkt des weltweiten Interesses. Jetzt sollte die ukrainische Kultur sichtbar sein, gerade das Kino, es ist schade, dass jetzt so wenig passiert, weil ein entscheidender Posten nicht adäquat besetzt wurde.

„Stop-Zemlia“ von Kateryna Gornostai. Foto: deja-vu

tipBerlin 2014 hat die Ukraine mit der Protestbewegung Euromaidan für gute Regierung und Orientierung nach West-Europa demonstriert. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Kateryna Gornostai Es war eine der finstersten und eine der leuchtendsten Zeiten in meinem Leben! Der Euromaidan fand in meiner Stadt statt, Kyjiw ist eine große Stadt, und in ihrer Mitte geschah etwas Großes und Radikales. Ich habe gefilmt und auch Essen verteilt und geholfen, wo etwas gebraucht wurde. Es war mein erstes Filmerlebnis nach dem Studium. Ich war nicht bereit, das wurde mir damals klar. Ich war unreif, deswegen habe ich einfach alles gedreht, was ich gesehen habe, ich hatte kein Konzept. Ich war mitten im Schlachtfeld, ich habe einen Quadratmeter weit gesehen. Ich hatte oft wirklich wirklich Angst, ich war nicht so stark, wie ich gern gewesen wäre. Vielen gingen danach auch in den Donbass, um den Krieg zu filmen. Für mich ist das nichts, ich bin nicht die Person dafür. Das musste ich akzeptieren. Ich bin nicht die große Dokumentaristin.

Und so wandte ich mich mehr dem fiktionalen Erzählen zu. Dokus habe eine große Macht, deswegen arbeite ich ein wenig hybrid. Der Euromaidan war eine große Zeit für das ganze Land. Leute begannen damals die Augen zu öffnen, sie wachten auf. Wir hatten schon über Revolutionen gelesen, und plötzlich hatten wir eine in der eigenen Stadt. Wir sind eine Gesellschaft, die etwas besser machen möchte. Vieles hat sich seither verändert, vieles ist aber auch noch nicht anders, wir kämpfen auch weiterhin mit Problemen im Inneren.

tipBerlin Stop-Zemlia hatte auf der Berlinale in der Sektion Generation 14plus Premiere. Hat die Präsenz bei diesem Festival Ihrer Arbeit seither geholfen?

Kateryna Gornostai Ich schreibe gerade mein nächstes Drehbuch, ein erster Entwurf, noch habe ich mich nicht für Scriptlabs beworben, auf denen man bei der Weiterentwicklung unterstützt wird. Ich möchte gern alle Schritte einen nach dem anderen machen. Die Berlinale war mein Traum, das war immer mein liebstes Festival, weil es so publikumsfreundlich ist. Ich wollte unbedingt in Berlin vertreten sein. Es war ein bisschen schade, dass das 2021 eine eingeschränkte Berlinale war, wegen Covid. Aber für mich als junge Autorin bringt die Berlinale eine größere Glaubwürdigkeit, auch daheim habe ich damit meinen Wert als junge Filmemacherin schon bewiesen.

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