Fahrrad

Radbahn unter der U1: Wie geht es weiter mit der Verkehrswende?

Seit rund neun Jahren träumen Planer:innen von der Radbahn, einem Radweg unter der Hochbahnstrecke der U1. Ein Traum, der nun Wirklichkeit zu werden scheint: Ab Anfang Juni soll mit dem Ausbau einer Testrecke der künftigen Radbahn begonnen werden.

So wie auf dieser Visualisierung könnte die Radbahn zukünftig aussehen. Foto: Reindeer Renderings 2017
So wie auf dieser Visualisierung könnte die Radbahn zukünftig aussehen. Foto: Reindeer Renderings 2017

Radbahn: Paradiesische Zustände unter dem Hochbahn-Viadukt?

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Es ist noch gar nicht lange her, da riskierten Radfahrer:innen, die von Tiergarten nach Kreuzberg wollten, tagtäglich ihr Leben. Jedenfalls dann, wenn sie Nebenstraßen mit vielen Kreuzungen, Ampeln und immer mal wieder Kopfsteinpflaster vermeiden und so, wie für die Autofahrer:innen selbstverständlich, den direkten Weg nehmen wollten: Vom Schöneberger- und Tempelhofer Ufer über die Gitschiner Straße führt die Strecke auf glatt asphaltiertem Weg eigentlich sehr schön gelegen lange Zeit parallel zum Landwehrkanal bis hin zur Skalitzer Straße. Allerdings waren Fahrräder auf der teils in beiden Richtungen dreispurigen Straße jahrzehntelang nicht wirklich vorgesehen – Fahrradwege fehlten. Oder sind, siehe Skalitzer Straße, zu schmal und in einem erbärmlichen Zustand.

Entsprechend „selbstbewusst“ scheuchten Autofahrer:innen, die strampelnde Verkehrskonkurrenz bis knapp an die Bordsteinkante. Wer diese unerwünschte, hochgefährliche Nähe als Radler:in ein paar Mal erlebt hatte, mied die Strecke. Oder schielte beim Überlebenskampf auf dem Weg zum Ziel immer mal wieder sehnsüchtig zur Hochbahn der Linie U1, die hier auf großen Teilen dieser Strecke ebenfalls verläuft. Das denkmalgeschützte, inzwischen mehr als 120 Jahre alte Viadukt sieht aus wie ein langgestreckter Eiffelturm, der sich hier auf Stelzen zur Ruhe gelegt hat. Und darunter herrschen aus Sicht der Radfahrenden paradiesische Zustände: Fast nie benutzte, derzeit ungepflegte Fußwege führen darunter. Oder, wie vor allem an der Skalitzer Straße, eine 2,5 Meter breite, nun ja, Straße, auf der sich teilweise links und rechts Parkplätze für Autos befinden.

Die rangierenden Autos einmal weggedacht, darüber sinnierten sich Radler:innen in Not immer wieder, könnte man hier auf Fahrrädern prinzipiell gut geschützt vor dem restlichen Verkehr vorwärtskommen. Und hätte bei Regen sogar noch ein Dach über dem Kopf.

2014, als der in Berlin lebende Finne Martti Mela über derartige Überlegungen mit seinem Kumpel Matthias Heskamp, einem Architekten, sprach, entstand der Plan, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und alle Ideen zum Radeln unter dem Viadukt zu einem Projekt zu bündeln. Es war genau die richtige Zeit. Denn immer mehr Radfahrer:innen begannen aufzumüpfen, prangerten vor allem die Flächenungerechtigkeit an, die dafür sorgte, dass sie an den Rand gedrängt und zahlreichen Gefahren ausgesetzt wurden: Die Initiative Volksentscheid Fahrrad begann sich zu formieren.

Reallabor Radbahn trifft sich am Kottbusser Tor

Donnerstag Abend, Ende Mai 2023, Nähe Kottbusser Tor in Kreuzberg. Im Aquarium, einem Veranstaltungsort, der zum Kieztreffpunkt Südblock gehört, haben sich im Publikumsraum vielleicht zwei Dutzend Personen versammelt. Am Bühnenrand vor ihnen sitzen Silke Domasch, Matthias Heskamp und Jeanette Werner. Dass hier niemand von oben nach unten guckt ist, den Leuten vom Reallabor Radbahn – die drei gehören zu dieser gemeinnützigen Unternehmergesellschaft (gUG) – offenbar sehr wichtig. Nach neun Jahren Einsatz an dem Projekt „Fahrradstrecke unter der Hochbahn“ steht man jetzt kurz davor, mit dem Ausbau einer 200 Meter langen Teststrecke zu beginnen: Los gehen soll es auf der Skalitzer Straße kurz vor der Kreuzung Mariannenstraße. Das Ende befindet sich kurz vorm Görlitzer Bahnhof.

Status Quo: Hier fahren bislang keine Fahrräder, aber mit der Radbahn soll sich das ändern. Foto: Paper Planes eV

Warum die Leute vom Reallabor Radbahn, sie werden drei Jahre für ihr Projekt öffentlich gefördert, so viel Wert auf Augenhöhe legen, wird bei der Präsentation im Aquarium sehr schnell klar. Im Publikum überwiegt gefühlt zwar große Zustimmung zu dem Radbahn-Plan. Doch die Stimmen, die dagegen sind, melden sich umso hartnäckiger: Eine Frau mit Kopftuch, die sich selbst als migrantisch bezeichnet, beklagt das Wegfallen der Parkplätze, hinterfragt, wie geplante Beete neben dem Radweg bewässert werden könnten und befürchtet, dass der Ort auch eine Oase für Ratten und Tauben werden könnten. Eine andere, etwas ältere Frau, fordert, dass sich die Initiative nicht um eine aus ihren Augen überflüssige Radbahn, sondern um gehbehinderte Menschen wie sie selbst kümmern solle. Bordsteine gehörten für ihren Rollator abgesenkt, Platz auf Bürgersteigen frei geräumt.

Mit der Teststrecken-Eröffnung befindet man sich in Verzug

Angesichts der offenbar anstehenden Zerfledderung des Themas glaubt man, im Zuschauerraum ein leicht verzweifeltes Seufzen zu hören. Doch es ist vor allem Matthias Heskamp, der durch eine Zen-artige Geduld beeindruckt. Mit größtem Verständnis blickt er die beiden Kritikerinnen an, bedankt sich für „die wichtigen Einwände“. Und entzieht ihnen durch seine ruhigen Erläuterungen Punkt für Punkt weitgehend die Grundlage. Der Architekt, der in Sachen Radbahn von Anfang an mit im Boot sitzt und einer der Geschäftsführer der gUG ist, ist durch eine harte Schule gegangen. Es hatte endlose Sitzungen mit Senatsstellen, dem Bund und natürlich Anwohner:innen gegeben, wird zwischendurch mal erwähnt. Immer wieder habe es Rückschläge und Planänderungen gegeben. Was einer von vielen Gründen ist, warum man sich mit der Eröffnung der Teststrecke rund zwei Jahre im Verzug befinde. Und natürlich haben die Mitarbeiter:innen vom Reallabor Radbahn alle Einwände bereits vielfach gehört. Zahlreiche Antworten darauf sind immerhin unter den FAQs, den häufig gestellten Fragen, auf der Website zu finden.

Wie sehr sich die Zeiten seit der ersten Ideenentwicklung bis in die Gegenwart geändert haben, darauf deutet FAQ Nummer elf hin: „Warum ist die Radbahn nötig? Es gibt doch Fahrradstreifen und -wege entlang der Skalitzer Straße?“

Tatsächlich wurde die Gefahren für Radelnde auf der Strecke von Tiergarten bis nach Schöneberg in den vergangenen Jahren deutlich entschärft. Vor allem auf dem Teilweg entlang des Landwehrkanals wurden breite Fahrradstreifen markiert, die das Vorwärtskommen per Rad deutlich sicherer machen. Gleichzeitig aber erlebte auch die Utopie von der Radbahn eine Transformation. Seit vom Raum unter dem Viadukt in seiner Gänze von der Warschauer Straße bis hin zum Bahnhof Zoo – ab Gleisdreieck übernimmt sozusagen die Hochbahnstrecke unter der U2 – vielfach geträumt wurde, mag man sich von diesem langgestreckten, pittoresken Örtlichkeit nicht mehr trennen. Ruhebänke, Reparaturstationen, Stadtgrün sowie hier und da ein Ausschank für Kaffee – kurzum: die Aufwertung des städtischen Umfelds beflügeln nun zusätzlich zur Radbahn die Fantasie der Planer:innen. Und selbstredend die Angst der Anwohner:innen vor Gentrifizierung.

Planänderungen bei der Radbahn würden niemanden mehr überraschen

Deswegen die Verkehrswende zurückzufahren, unter der auch die Radbahn, nun ja, gedieh, dürfte jedoch weder die Gentrifizierung stoppen noch sonstwie zukunftsweisend sein. Tatsächlich, so wird auch an diesem Abend im Aquarium kurz erwähnt, seien die Pläne zur Zurückdrängung der Autos von der Skalitzer Straße im Bezirk längst viel weiter gediehen. Statt in je eine Richtung beidseitig der Hochbahn rollen zu können, ist angedacht, dass Autos künftig auf einer Seite mit Gegenverkehr fahren. Während Radfahrer:innen die andere Seite nutzen könnten – was für diese letztlich wohl auch praktischer wäre, als auf der engen Radbahn mit ihren vielen Kreuzungsunterbrechungen entlang zu gurken.

Wird die Radbahn also gar keine Radbahn? Sondern künftig ein überdachter, neun Kilometer langer Bummel-Boulevard mit Erholungszonen und Snack-Möglichkeiten? Angesichts der vielen Planungsveränderungen von der zunächst angedachten Radschnellbahn zum Rad-Boulevard, der unter dem Viadukt entlang führen soll, würde eine weitere Metamorphose jedenfalls nicht überraschen.

Wohin der Weg buchstäblich geht, sollen Anwohner:innen und künftige Nutzer:innen jedoch unbedingt mitbestimmen. Statt sich jeden letzten Donnerstag zum Austausch in Veranstaltungsräumen wie dem Aquarium zu treffen, soll es künftig zu dem gleichen Termin drei Monate lang Führungen zur Baustelle der Teststrecke geben. Verläuft dann alles nach Plan, wird die Testrecke am 31. August für die Nutzer:innen freigegeben.


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