Paddeln auf dem Landwehrkanal? Die Idee lag auf der Hand. Meine Kreuzberger Wohnung ist keine fünf Minuten vom Paul-Lincke-Ufer entfernt, das Büro der tip-Redaktion liegt direkt am Salzufer in Charlottenburg. Beide Punkte sind durch den Landwehrkanal verbunden. Statt mit Auto, Rad oder BVG bot mir das Boot eine neue und ungewöhnliche Möglichkeit, von Zuhause zur Arbeit zu kommen. Ein Reisebericht von Jacek Slaski.
Mit dem Boot zum Job: Start ist am ruhigen Maybachufer
Kreuzberg, kurz nach sieben Uhr morgens. Es ist ein Dienstag, die Markthändler bauen ihre Stände am Maybachufer auf, der Kanal ist leer, außer einigen Schwänen die sich an Kottbusser- und Admiralbrücke herumtreiben. Schon der Berliner Liedermacher Funny van Dannen hat sie besungen: „Wenn im Urbanhafen die Schwäne schlafen, sind viele Menschen noch wach“. Jetzt sind sie gerade erst wach. Für Kreuzberger Verhältnisse ist es sehr früh. Einige Jogger ziehen an den Ufern ihre Runden, ein einsamer Mann sitzt vor dem Urbankrankenhaus, eine ältere Frau macht Tai-Chi. Sie hebt die Hände zum fernöstlichen Sonnengruß, parallel erklingt das christliche Glockengeläut und hallt über der Szenerie.
Einige Paddelschläge weiter entdecke ich eine kleine schwimmende Insel, kurz vor dem Restaurantschiff im Urbanhafen. Keine zehn Quadratmeter groß, wachsen auf dem umzäunten Floß Gräser und andere Grünpflanzen. Ich nenne sie die „schwimmenden Gärten von Kreuzberg“. Warum sie hier sind, weiß ich nicht, und es kümmert mich nicht weiter. Die Sonne scheint, aber es ist nicht heiß, ein perfekter Tag für dieses urbane Abenteuer. Im letzten Jahr sorgte auf diesem Stück des Landwehrkanals eine wirre Schlauchbootdemo von Technoclub-Enthusiasten für einen mittelgroßen Skandal. Jetzt treiben sich an den Ufern ein paar Wasservögel mit Nachwuchs herum. Enten und Blässhühner vor allem.
An den Brücken, Schildern und Uferbefestigungen zeugen Aufkleber und Streetart von den mentalen und kulturellen Zuständen der Stadt. Lenin und die Weltrevolution, Nazis raus, daneben eine Forderung nach Corona-Impfstoff für alle. Haben wir das nicht? Hinweise auf Partys, Demos und ein Porträt von Miles Davis. Was der Jazzgenius zwischen dem aufgeregten Polit-Gezwitscher verloren hat, wissen wohl nur die Geister, die ihn hier an die Mauer pinselten.
Zwar führt der Landwehrkanal mitten durchs Gewusel, an U- und S-Bahn vorbei, entlang viel befahrener Straßen, zugleich passiert man aber auch Oasen der Ruhe, etwa an der Prinzenstraße. Ich sitze im Boot, vor mir eine Tasche mit zwei Broten und etwas zu trinken. Die Perspektive ändert sich. Dort die Stadt, hier ich allein. Die Leute gehen dem geregelten Alltag nach, alles wie immer, nur ich paddle ins Büro. Ich komme nur langsam voran, schaue mich um, fotografiere, notiere, schließlich ist dies auch eine Forschungsexpedition und da braucht es Material für den Reisebericht.
Im trüben Wasser schwimmt etwas Kleines an mir vorbei
Im trüben Wasser schwimmt etwas Kleines an mir vorbei. Die Form sieht ungewöhnlich aus, wie eine kleine Karaffe, etwa zehn Zentimeter lang. Seltsam. Ich bin schon drei, vier Meter weiter, dann kehre ich doch um und fische das Treibgut aus den Fluten. Erstaunt stelle ich fest, dass es eine kleine Marienfigur mit Jesuskind ist. Mein lange verschütteter Katholizismus macht einen kleinen Jubelsprung. Sofort stellt sich das Gefühl ewiger Seligkeit ein und ich drifte in spirituellen Gedanken ab. Die heilige Mutter Gottes aus dem Schaum des Kanals hervorgeholt. Es geschehen noch Zeichen und Wunder!
Tatsächlich geschehen sie. Nur ein oder zwei Minuten weiter, kurz vorm Halleschen Tor, sehe ich wieder eine Figur im Wasser. Ich hole sie ins Boot. Noch eine Maria mit Kind, diesmal ist sie dunkelhäutig. Halleluja! Doch die Wunder reißen nicht ab, gleich daneben noch eine Figur. Diesmal ist es der Heilige Lazarus mit seinen Krücken und zwei Hunden an den Füßen. Halleluja! Halleluja! Halleluja!
Eine bunte Holzrassel finde ich auch noch und schüttle sie im gottgefälligen Rhythmus. Eine bizarre Situation. Wie kommen diese Dinge in den Kanal? Die Rassel haben vermutlich irgendwelche Hippies bekifft von der Brücke geworfen, aber die zwei Marias und der Lazarus? Fand ein freikirchliches Wasserritual an den Ufern des Kanals statt? Auf manche Fragen wird man nie eine Antwort finden. Jedenfalls bin ich ab jetzt im Auftrag des Herren unterwegs, behaupte ich mal.
Zwei angeheiterte Trunkenbolde hocken am Ufer und rufen mir zu, viel mehr Interaktion hatte ich bislang nicht mit der Menschheit, man ist schon etwas einsam hier auf dem Kanal. Ab der Mehringbrücke wandelt sich die Umgebung, es wird urban und hässlich, die Ufer sind hoch und mit Vogelkot übersät, auf dem Wasser liegt ein Schmutzfilm aus Algen, Vogelfedern, Blättern, leeren Kartons und Flaschen; zwei schimmlige Bananen treiben vorbei. Die Straße lärmt, ein Hubschrauber kreist über mir.
Paddeln auf dem Landwehrkanal: Dystopische Botschaften und Aufrufe gegen die 5G-Technologie
Am U-Bahnhof Möckernbrücke tauchen Hieroglyphen an den Ufermauern auf, dystopische Botschaften und Aufrufe gegen die 5G-Technologie. Das alte Postbank-Hochhaus ragt hier in den Himmel, auch dort zieren exotische Symbole die Fassade. Es sind kryptische Graffiti der „Berlin Kidz“ Crew, die sich am brasilianischen Pichação-Stil orientieren. Wieder ein Mysterium. Linker Hand steht das Deutsche Technikmuseum mit dem Rosinenbomber über dem Eingang. Direkt davor führt ein Fußgängersteg über den Kanal. Im Sockel hat sich jemand ein massives Lager eingerichtet. Mit US-Fahne, wasserdichten Planen und Monitoren. Es sieht aus, wie eine postapokalyptische Behausung und passt befremdlich gut zu den seltsamen Zeichen schräg gegenüber.
Knapp zwei Stunden bin ich unterwegs, als ich den Potsdamer Platz erreiche. Es geht nicht schnell voran, dafür verändert sich der Blick auf die Stadt, vom Wasser aus wirken tausendmal gesehene Orte stets ein klein wenig anders. Langsam bekommt die Tour auch einen touristischen Aspekt, der Kanal führt durch Tiergarten, um die Ecke beginnt das Botschaftsviertel, an den Ufern tauchen nacheinander berühmte Bauten auf: Neue Nationalgalerie, Bauhaus-Archiv, Konrad-Adenauer-Haus. Hinter dem Lützowplatz wird es wieder ruhiger. Es geht Richtung Zoo, die Häuser sind eleganter, an den Ufern sieht man weniger Graffiti.
Dann folgt die Schleuse, die dem Schleusenkrug den Namen gab. Hier muss man aussteigen und das Boot vorbeitragen, viel schwerer als es ist, dürfte es nicht sein, auch wenn es nur 200 oder 300 Meter Landweg sind. Auf dem letzten Stück meiner Expedition geht es dafür noch an zwei Highlights vorbei. Einmal der „Rosa Röhre“, dem spektakulären Umlaufkanal in dem Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der TU Berlin Strömungsturbinen testen, und gleich gegenüber die Hausboot-Enklave. Eine merkwürdige Mischung aus „Pippi Langstrumpf“ und „Mad Max“ gepaart mit etwas Kleingarten-Idyll. Die bewohnten Boote sehen gemütlich und abenteuerlich zugleich aus, und hinter jedem einzelnen stelle ich mir spannende Biografien vor. Wer wohnt hier nur?
Einmal unter der Charlottenburger Brücke noch durch und dann die Zielgerade: Salzufer. Nach knapp drei Stunden habe ich mein Büro erreicht. Boot raus, einpacken, an den Schreibtisch setzen. Jeden Tag werde ich das nicht machen, dafür dauert es zu lang, aber die Tour bleibt mir garantiert länger in Erinnerung, als eine Fahrt mit der U-Bahn oder dem Fahrrad. Das Abenteuer direkt vor der Haustür suchen, das hat schon mal funktioniert und eine Erkenntnis kommt noch hinzu: Paddeln auf dem Landwehrkanal ist nicht nur etwas für Party-Hipster, die ihren Nachmittags-Joint auf dem Wasser durchziehen wollen, auf diesem berühmten Berliner Wasserweg lässt sich auch im kleinen Boot gut die Stadt entdecken. Und manchmal ist diese Stadt voller Wunder und Mysterien.
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