Unser Autor entdeckt den Mauerweg, seine Tour zwischen Ost und West führt durch Treptow und Neukölln. Er trifft auf Menschen im Kleingartenidyll, spaziert durch den Heidekampgraben und findet neben Monet’schen Seerosen auch Erinnerungen an Chris Gueffroy: am Britzer Verbindungskanal erinnert heute eine Stele an den vorletzten Mauertoten.
Die Späthbrücke sieht aus der Ferne wie eine Miniatur aus
Wo die Mauer stand, will ich von Detlef wissen. Samstagnachmittag und Nieselregen. Wir stehen auf der Neuen Späthbrücke in Britz, Detlef ascht in den Teltowkanal, hält sich an seiner Zigarette fest, am Brückengeländer und manchmal auch an meiner Schulter. Detlef, Mitte 50, torkelt, vom zwölften Bier, wenn man ihm glauben kann, die Nacht hat er durchzecht, die Zunge ist schwer. Detlef freut sich, dass ich Wessi bin, weil: Mit den Ossis, das sei so eine Sache, seine Frau, also Ex-Frau, sei ja auch Ossi, und ich könne doch sehen, wohin das führe.
„Hier unten lief die Mauer lang“, sagt Detlef, streift mit dem Arm Richtung Autobahn 113, so als wollte er etwas wegwischen. Dann macht sich ein Lächeln breit in seinem Gesicht, ein Lächeln, das er gerade wohl von einem ganz anderen Moment borgt. „Ja, dort hinten“, er zeigt auf die alte Späthbrücke, die von hier wie eine Miniatur ausschaut, „sind wir als Kinder mit den Rädern rübergefahren – und dann ganz dicht vor der Mauer lang.“ Als Detlef geboren wurde, muss die Mauer schon gestanden haben.
Kann das sein, dass die da rüber durften, über den Kanal? Die Grenze verlief mitten im Gewässer – das von Ost und West befahren wurde. Vielleicht sollte ich Detlef nochmal mit weniger Alk in der Blutbahn konsultieren. Vielleicht war das aber auch sein Kindertraum, der selbst nüchtern nicht weichen würde: mit dem Rad zur anderen Seite der Macht. Ich danke Detlef. Er sagt, er hoffe, dass ich finden werde, was ich suche. Ach ja, die Mauerbruchstücke. Na dann.
Der Mauerweg führt am Kanalufer entlang
Am Kanalufer unten, Ostseite, treffe ich Klaus, der im großflächigen Gesträuch Brombeeren erntet für Brombeerquark. Auch er ein Mann Mitte 50. Die Gegend scheint ein Magnet für mittelalte Männer zu sein. Extra aus Tempelhof ist er hergefahren bei dem Scheißwetter. Aber Klaus ist keiner, der klein beigibt: Er erzählt mir, wie er als TU-Student einst einen grenzwertigen Job hatte. Damals hat er Autos von West-Berlin über den Grenzübergang Helmstedt-Marienborn durch die Zone gefahren, bis Hannover. Und umgekehrt. Die Auftraggeber nahmen das Flugzeug und haben sich für den Obolus, der an Klaus ging, die Grenzschikanen gespart. Es klingt wie ein fairer Deal.
Einmal, erinnert sich Klaus, habe ein Grenzer im Auto seiner Kundschaft einen Lippenstift aus dem Koffer genommen, sich damit einen Strich auf die Hand gezogen („Der’s abor scheen rood!“), und einen Damenschlüpfer, den der Grenzer breit auseinanderzog und genüsslich beschnüffelte. Abschließend habe er Klausens Schokolade von der Hutablage genascht („Schdorf doch mohl?“), was dem dann doch zu weit ging, sodass er prompt den Vorgesetzten verlangte. Den stellte Klaus zur Rede: „Woher weiß ich, wo Ihr Kontrolleur seine Wichsgriffel vorher gehabt hat? Sie legen doch so viel Wert auf Hygiene in der DDR. Sie wollen international sein. Das ist nicht international!“
Bei Bedarf kann Klaus auch lupenrein sächseln, was die Grenzer auf die Palme brachte. Ende der Geschichte: Klaus durfte auf dem Militärstreifen weiterbrausen. Die Grenzer salutierten. Die Russen salutierten. Die Amerikaner waren irritiert.
Wenn ich mir alle paar Meter neue alte Geschichten von der Mauer reinziehe, denke ich, komme ich niemals am Ende der Etappe an, bevor es dunkel ist. Ich verabschiede mich und lasse Klaus und seine Brombeeren hinter mir.
Auf zu Chris! Eine Stele am Ufer des Britzer Verbindungskanals erinnert seit 2003 an ihn.
Chris Gueffroy, der vorletzte Mauertote
Chris Gueffroy. Der vorletzte Mauertote – und der letzte, der erschossen wurde. 22 Schüsse, einer davon mitten ins Herz. Für die Todesschützen gab es Leistungsabzeichen und Festbuffet, mir dreht sich der Magen um. Zusammen mit seinem Freund Christian Gaudian wollte Chris Gueffroy über den Britzer Kanal nach Neukölln fliehen. Gueffroy hatte gehört, dass der Schießbefehl ausgesetzt worden sei. Ein fatales Missverständnis. Wenn ich mir Fotos von Chris Gueffroy angucke, der Schauspieler oder Pilot werden wollte, glaube ich, dass ich, ohne mit der Wimper zu zucken, mit ihm durch den Kanal geschwommen wäre, wenn er mich gefragt hätte. Der Rest ist Schweigen.
Vorbei geht’s an Gartenlauben mit Deutschlandflaggen und Plattenbauten mit Balkonien-Balkonen, auf denen ältere Damen stehen, die gelangweilt und nett aussehen; eine richtet die auf ihr Halstuch gedruckten Blumen. Ich fühle mich schäbig, nicht bloß, weil sie einen Traumfänger im Fenster braucht, sondern weil ich auf dem Mauerweg ihren Kiez durchquere, als wäre er ein Freilichtmuseum, mit dem fixen Urteil der Spätgeborenen.
„Sonnenallee“, den Film von Leander Haußmann, hatte ich mit 15 gesehen. Die Stelle, an der der Grenzübergang war, kommt mir merkwürdig banal vor. Im Grunde ist kaum noch was zu sehen, außer der Straße selbst. Die zwei Fernrohre an der früheren Trennlinie sind Teil einer Kunstinstallation.
Baff bin ich, als nur wenige Minuten später imposantes Grünzeug aus dem Boden wildert, auf beiden Seiten des Heidekampgrabens, sodass es Monets Seerosen sicher eine helle Freude wäre, hier im Graben zu baden. (Einziges Ärgernis: dass ich beim Kampgraben immer an Kramp-Karrenbauer denken muss.) Sogar Monet’sche Brücken schwingen sich über den Heidekampgraben. Die wurden kurz nach der Wende errichtet, als handfestes, nein fußfestes Symbol der Wiedervereinigung.
Ist das schon Neukölln hier an der Köllnischen Heide?
Als ich den Tunnel unterm S-Bahndamm zwischen den Bahnhöfen Köllnische Heide (Ex-West) und Baumschulenweg (Ex-Ost) nehme, bin ich überrascht, dass es hier nicht nach Pisse stinkt. Ist das wirklich schon Neukölln? Zeitweise wurden während der Mauerzeit übrigens Teile des S-Bahndamms abgetragen, nicht bloß die Gleise. Jetzt ist alles wieder da.
Entlang der Kiefholzstraße reihen sich beiderseits der alten Grenze Gartenkolonien. Linker Hand die Westkolonien, rechter Hand die Ostkolonien. Eine im Osten heißt „Sorgenfrei“. 1962 wurde hier ein 13-Jähriger erschossen, als ein Grenzsoldat Kindern seine Waffe ungesichert vorführte. 1966 erschossen die Grenzer einen 10- und einen 13-Jährigen, die in den Westen wollten, vermutlich um den Vater des einen zu besuchen. Es heißt, nur besonders DDR-Regimetreue hätten hier auf Ostseite Gartenkolonien bekommen. Zu groß die Fluchtgefahr unmittelbar an der Grenze.
Ich treffe Nicole und Thomas, Ende 50, Anfang 60, die gerade mit dem Kleinwagen parken. Ich will wissen, ob das noch immer so sei, dass auf der einen Seite der Kiefholzstraße die Ossis und auf der anderen die Wessis ihre Gartenlauben haben, strikt getrennt, auch 30 Jahre nach dem Mauerfall. „Ja klar, überall“, sagt Nicole, „muss man doch nur mal in die Zeitung gucken: Die Renten sind doch auch verschieden.“
Vom Plänterwald blickt man auf Hochhäuser
Der kleine graue Hund der beiden springt auf die feuchte Ost-Wiese. Nicole und Thomas erzählen mir davon, wie sie als Kinder vom Plänterwald aus die weißen Hochhäuser im Westen bewundert haben. Ich denke an Detlef und Klaus und Chris, die irgendwie mitspaziert sind in meinem Kopf. „Von mir aus hätten sie die Mauer stehen lassen sollen“, faucht Thomas. „Oder wiederaufbauen.“ – „Ja“, sagt Nicole, und seufzt, „es ging uns gut.“
Späthbrücke bis Kiefholzstraße: Tipps an der Tour
Schloss Britz Das prachtvolle Gutshaus liegt zwar etwa zwei Kilometer westlich des Mauerwegs, ein Abstecher zur Perle des Bezirks lohnt sich aber allemal: entweder ins mehrfach preisgekrönte Museum oder in den bezaubernden Schlossgarten.
- Alt-Britz 73, 12359 Berlin, www.schloss-britz.de
Späth’sche Baumschule 1720 gegründet, beherbergt die Späth’sche Baumschule einen Kräutergarten mit einer enormen Auswahl an exotischen Kräutern, wie beispielsweise 25 Basilikumsorten. Auf dem Areal befindet sich auch das Späth-Arboretum, das als botanischer Garten von der Humboldt Universität genutzt wird und im Sommer an manchen Tagen zugänglich ist.
- Späthstraße 80/81, 12437 Berlin, www.spaethsche-baumschulen.de
Gasthaus Waldesgrund Unweit der Späth’schen Baumschule liegt das Gasthaus Waldesgrund. Wer Appetit auf deutsche Küche hat, ist hier bestens aufgehoben.
- Baumschulenstraße 59, 12437 Berlin, bei Facebook
Treptower Park Nur 200 Meter vom Weg entfernt liegt der Treptower Park, eine der Parkanlagen in Berlin, die noch aus dem 19. Jahrhundert erhalten sind. Von der riesiegen Gewerbeausstellung – ein Ersatz für die Weltausstellung, die Berlin immer verwehrt blieb –, ist nur noch die Archenhold-Sternwarte übrig. Dafür wurde hier das größte und beeindruckendste Ehrenmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten der Sowjetunion errichtet. Über 7.000 Soldaten, die bei der Schlacht um Berlin starben, sind hier beerdigt. Mehr zum Treptower Park lest ihr hier.
- Puschkinallee, 12435 Berlin
Insel der Jugend Schier unglaublich, dass die Insel der Jugend einst künstlich aufgeschüttet wurde! Aus Schutt und Müll. So idyllisch sieht das Eiland heute aus, dass man meint, es wäre da immer schon so paradiesisch gewesen. Empfehlungen: Bier zwischen den lauschigen Bäumen trinken, Sonnenuntergang auf dem Steg genießen und vorab unbedingt eine Stunde Tretboot fahren. Mehr Berliner Inseln, die ihr entdecken solltet, stellen wir hier vor.
- Alt-Treptow 6, 12435 Berlin
Mehr Spaziergänge
Weitere Mauerweg-Touren aus unserem Buch „Grenzgänge“ findet ihr hier. Unbedingt besuchen: die Gedenkstätte Berliner Mauer. Am Wasser entlang, durch Wälder und wunderbare Weiten: 12 schöne Spaziergänge im Osten Berlins. Noch mehr grüne Ziele: Unsere Tipps für schöne Waldspaziergänge in Berlin findet ihr hier. Wenn die richtige Strecke nicht dabei ist, haben wir noch mehr schöne Spaziergänge in der Natur und in der Stadt für euch. Bei Sonnenschein am schönsten: 12 tolle Spaziergänge durch Berlin im Sommer. Wald, Wasser, wunderbare Weite: 12 Spaziergänge im Osten von Berlin. Immer neue Ideen findet ihr in unserer Rubrik „Ausflüge“.