Nahverkehr

Endlich kein 9-Euro-Ticket mehr: Ein paar Gründe zum Feiern

Das war’s, das „9-Euro-Ticket“ ist nicht mehr. Fahren wird wieder teurer, Fahrkartenkäufe komplizierter, also alles wie gehabt. Drei Monate ging der Spaß. Drei Monate, in denen Syltbesuchende um ihre temporäre Luxuswahlheimat fürchteten; in denen kein Tag ohne Panik vor überfüllten Bahnen verging; in denen „Heute Show“ und FDP stärker als sonst argumentativ auf einer Linie waren. Es waren Zeiten voller Wunder, mehr oder minder. Doch vorbei ist vorbei. Um alle Trauernden aufzumuntern, haben wir hier ein paar Gründe, warum es super ist, dass es das „9-Euro-Ticket“ nicht mehr gibt.

Das „9-Euro-Ticket“ ist tot. Witzig, was sich die Hippies der Piratenpartei haben einfallen lassen. Foto: Imago/Mike Schmidt

Endlich werden Ticketkäufe wieder intellektuell fordernd

Kein 9-Euro-Ticket und endlich wieder Spaß an Automaten: Kompliziert oder einfach nur fordernd? Foto: Imago/suedraumfoto

Region W oder T oder F? Kreis K oder P? Innerorts, außerhalb, Kurzstrecke, Langstrecke, Umweltticket oder Azubipauschale? All die Fragen fielen weg, Bahnfahren war lächerlich einfach. Wie unfassbar freudlos das war! Endlich können wir wieder überkomplexe, ellenlange Dokumente durchforsten, nur um herauszufinden, ob das günstigste Ticket für vier Haltestellen reicht. Außerdem haben die in den vergangenen drei Monaten vereinsamten Veteranen wieder die Möglichkeit, Neueinsteigende ungefragt zu belehren. Das „9-Euro-Ticket“ geht, gute Gespräche und intellektuelle Herausforderungen erleben ihr Comeback.


Endlich werden Tickets wieder teurer

Im Vergleich zu 2015 sind die Ticketpreise bundesweit bis 2022 um rund 20 Prozent gestiegen. Da ist doch noch mehr zu holen! Immerhin ist das Sozialticket in Berlin für Erwerbslose noch bezahlbar, preislich liegt es bei 27,50 Euro. Der ALG-2-Satz sieht aber 40,41 Euro für öffentlichen Personennahverkehr vor, schreibt zumindest die Berliner Morgenpost. Da ist noch einiges an Luft. Wer keinen Anspruch hat, zahlt hier in Berlin 86 Euro für die Monatskarte, völlig egal, wie hoch der Verdienst ausfallen mag. Manchen schmerzt das mehr als anderen. Wer jeden Euro zweimal umdrehen musste, kann sich schon mal auf wunde Finger freuen. Besonders dann, wenn wieder lange, überregionale Fahrten anstehen.

Kleiner ernster Einschub: Sollte es mal nicht für ein Ticket reichen oder ihr vergessen, ein Ticket zu kaufen, könnt ihr euch beim „9-Euro-Fonds“ anmelden. Für neun Euro werden von den Initiator:innen im Falle eines erhöhten Beförderungsentgeldes, etwa wenn ihr ohne Fahrschein erwischt werdet, die Kosten übernommen. Es ist eine Notfalloption, schwarzfahren ist eine Straftat.


Endlich haben Kontrolleure wieder was zu tun

In den drei Monaten 9-Euro-Ticket hat sich bei manchen Kontrolleuren einiges an Energie angestaut. Foto: Imago/KS-Images.de

Viele von ihnen verstaubten in den Hinterzimmern der BVG, trauerten um ihre verpasste Polizeikarriere, die Kontrolleur:innen. Manche von ihnen zogen los, auf der Suche nach frechen Leistungserschleicher:innen. Sie wandelten durch die Bahnen, doch jede Kontrolle eine Enttäuschung: Alle hatten Tickets, waren ja auch bezahlbar. Tag für Tag taumelten sie zum Klang traurig piepender Lesegeräte in den Feierabend. Keine Erfolge, keine Predigten.

Kontrolleure sind ohnehin unproduktiv, sie schaffen an sich keinen Wert. Der Soziologe David Graeber würde hier von Bullshitjobs sprechen. Mit dem „9-Euro-Ticket“ war ihre Tätigkeit noch unproduktiver. Wäre doch ein Jammer, wenn sie woanders, vielleicht in einem sinnvolleren Bereich eingesetzt würden.


Endlich werden wieder Ressourcen verballert

Haben endlich wieder zu tun: Ticket-Entwerter. Foto: Imago/Schöning

Kontrolleure werden wieder nötig, die Automaten müssen wieder auf Hochtouren Tickets drucken, Personal für Bußgelder wird wieder fällig, Gerichte müssen sich wieder zusätzlich um Schwarzfahrer:innen kümmern. Alle kommen ins Schwitzen, ächzen unter der Last neuer, alter Aufgaben. Ein ökonomischer Geniestreich, sofern man ihn richtig interpretiert


Endlich wieder mehr CO2

Bald gibt’s wieder Action auf Berlins Straßen. Foto: Imago/Jochen Eckel

Kohlendioxid ist super. Klar, die Menge macht das Gift, aber es wird schon einen Grund haben, das gerade Industrieländer so viel davon produzieren. Pflanzen binden Kohlenstoff und was für Baum und Plantane gut ist, dürfte für uns großartig sein. Rund zehn Prozent aller Käufer:innen des 9-Euro-Tickets verzichteten auf mindestens eine ihrer täglichen Autofahrten, schreibt der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. Rund 1,8 Millionen Tonnen CO2 sollen optimistischen Schätzungen in den vergangenen drei Monaten eingespart worden sein, umgerechnet etwa so viel wie ein Jahr Tempolimit. Manche Expert:innen gehen von deutlich weniger aus, aber schlecht ist das Ergebnis trotzdem nicht. Zum Glück ist das erstmal vorbei.


Endlich wieder lange Schlangen vor Ticketschaltern

Union Spiel oder Ticketschalter? Ersteres, aber vor Ticketschalter sieht es bald wieder ähnlich aus. Foto: Imago/Matthias Koch

Technophobe lieben es: in Schlangen stehen. Wie viele Bekanntschaften sind dadurch entstanden, wie viele Liebschaften? Sogar der Autor dieses Texts kam in einer Schlange zur Welt. Hätte es damals schon das „9-Euro-Ticket“ oder Ticketapps gegeben, wäre das Stück hier wohl nie entstanden. Wo ihr in Berlin besonders schön Anstehen könnt, lest ihr hier.


Endlich werden öffentliche Gelder wieder vernünftig eingesetzt

Das Geld fürs „9-Euro-Ticket“ hätte auch in die Rüstungsindustrie fließen können – oder in Volkshochschulkurse für Fotograf:innen. Foto: Imago/imagebroker

2,5 Milliarden Euro soll das „9-Euro-Ticket“ dem Bund gekostet haben. 2,5 Milliarden Euro für drei Monate. Bundesfinanzminister Christian Lindner geht davon aus, dass es jährlich 14 Milliarden kosten dürfte. Das ist eine Wahnsinnssumme, wenn wir bedenken, dass Deutschlands Militärausgaben zwischen 2010 und 2020 um rund 13 Milliarden Euro gestiegen sind – auf 56 Milliarden Euro. Wie viel mehr wäre da für Aufrüstung drin gewesen? Gerade sie birgt größeren gesellschaftlichen Nutzen als niedrigschwelliger und kostengünstiger öffentlicher Personennahverkehr.


Tja…

„Wer kein Ticket kaufen kann, soll einfach Autofahren“, so Christian Lindner. Spaß, hat er nie gesagt. Foto: Imago/Christian Spicke

Vielleicht freuen wir uns ja zu früh, dass das „9-Euro-Ticket“ weg ist. Lange hockte Bundesfinanzminister Christian Lindner auf seinem Pfahl, schmetterte seine neoliberale Ansprache zur Bezahlbarkeit: „2,5 Milliarden, woher sollen die kommen? Die sind im Haushalt nicht vorgesehen! Geld ist knapp!“. Letztlich war es wohl Wissing, der ihn stürzte, ein Mann aus den eigenen Reihen. Kürzlich kündigte er an, eine Alternative gefunden zu haben, eine bezahlbare. Angeblich soll sie nur ein Bruchteil kosten, da konnte Lindner einfach nicht „Nein“ sagen. Konkret wurde er nicht, Macher lieben ihre Geheimnisse.


Mehr zum Thema

Ihr wollt mehr Infos zur Zukunft des günstigen Fahrscheins? 9-Euro-Ticket: Wie es weitergeht – offiziell und mit 9-Euro-Fonds. Ihr kommt mit Bus und Bahn in Berlin nicht klar? Hier findet ihr alles zum Berliner Nahverkehr. Übrigens: Auch wenn die Tickets teuerer sind, eine Tagestour lässt sich verkraften, wenn es etwas zu sehen gibt. Ist bei der Buslinie 300 und der Buslinie 100 der Fall.

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