Berlinale 2020

„Generation 14plus“ nimmt junge Zuschauer ernst

Harte Realitäten: Die Berlinale-Sektion Generation 14plus nimmt mit einer realitätsnahen Filmauswahl erneut seine jugendlichen Zuschauer ernst

Blitzender Stinkefinger: „Alice Júnior“, Foto: Beija Flor Filmes

Sollte die Täterin begnadigt werden? In diesem Fall bitte eine SMS mit der Endziffer 1 schicken. Falls nicht, dann eben eine SMS mit der 2. In „Yalda, a Night for Forgiveness“ wird die weitreichende Entscheidung über Leben oder Tod zum Spektakel auf TV-Unterhaltungsformat getrimmt. Vor der Kamera hofft dabei die junge Iranerin Maryam auf Gnade, nachdem sie zum Tode verurteilt wurde, weil sie ihren 65-jährigen Mann umgebracht haben soll. Begnadigen kann sie aber nur eine Person: die Tochter des Ermordeten aus einer früheren Ehe, auf die sie in der Sendung trifft.

Der intensiv gespielte Film könnte die zentralen Gedanken zum Hauptthema über Schuld und Vergebung zwar noch weiter vertiefen. Doch „Yalda“ bietet in vielerlei Hinsicht einen spannenden Einblick in die (patriarchale) Gesellschaft des Iran – und ist damit nicht der einzige Beitrag in der diesjährigen 14plus-Auswahl, in dem das junge Publikum mit einem komplexen Thema konfrontiert wird.

Wie gewohnt spiegelt das global umherschweifende Programm eine ganze Bandbreite jugendlicher Lebenswelten. Mal folgt man in Leonie Krippendorffs Eröffnungsfilm „Kokon“ einer jungen Kreuzbergerin durch einen Sommer; mal im wirklichkeitsrauen „Paradise Drifters“ zwei jungen Männern und einer schwangeren Frau nach Südeuropa. Alle drei verbindet, dass sie als strauchelnde Existenzen mit Bedürfnissen und Sehnsüchten, aber auch ohne Ziel, Nähe und ohne Anker mit einem richtigen Zuhause durch ihre harten Leben streifen.

Ohne Erwachsene

Die Heranwachsenden in „Pompei“ sind ebenfalls auf sich selbst gestellt. In ihrer Welt scheint es, ähnlich wie beim Klassiker „Der Herr der Fliegen“, so gut wie keine Erwachsenen zu geben. Irgendwo im Nirgendwo versucht die Gruppe von Teens, der Langeweile und der Einsamkeit ihres Alltags zu entkommen, Victor und sein Bruder schlagen sich damit durch, dass sie illegal ausgegrabene Relikte verscherbeln. Vage bleibt vieles in dieser Coming-of-Age-Geschichte, die vor allem durch ihre Inszenierung und die starken Landschaftsaufnahmen einen atmosphärischen Sog entwickelt.

In „Notre-Dame du Nil“ hingegen ist der Schauplatz klar: Die Verfilmung des gleichnamigen Romans führt in eine katholische Mädchenschule in Ruanda und damit in das Land, in dem 1994 ein ethnischer Konflikt zu einem Genozid eskalierte. Anhand des Schulkosmos illustriert der Film die absurden Vorurteile und Spannungen zwischen den Volkgruppen. Anders als in „Notre-Dame du Nil“ hat der Krieg in „The Earth is Blue as an Orange“ längst begonnen – in der Ost-Ukraine, wo die angehende Kamerafrau Mira in Donbas mit ihrer Mutter und den Geschwistern lebt. Wie sie die tägliche Gefahr seit 2014 erleben, inszeniert Regisseurin Iryna Tsilyk über eine Metakonstruktion als Film-im-Dokufilm.

Während das Kino hier ein großer Antrieb ist, das Erlebte filmisch zu verarbeiten, sucht in „Alice Júnior“ von Gil Baroni die gleichnamige Protagonistin ihre Öffentlichkeit über ihren beliebten YouTube-Kanal. Sie gibt selbstbewusst Einblick in ihren Alltag als jugendliche Transsexuelle. So entwickelt sich hier eine brasilianische Dramödie um Akzeptanz und das Trans-Erwachsenwerden, die etwas lauter, mit gemalten Flatterherzchen im Bild, so sprudelnd daherkommt wie die trotz mancher Ausgrenzung unbeirrte Kämpferin.


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