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Berliner Schriftsteller

„Es ist keine Auerhaus-Fortsetzung“: Bov Bjerg hat mit „Serpentinen“ einen neuen Roman geschrieben

Fünf Jahre nach dem Überraschungsbestseller „Auerhaus“ ist Bov Bjerg mit seinem neuen Roman „Serpentinen“ erneut im Schwäbischen unterwegs

Foto: Gerald von Foris

Wie man es sich bei einem Bestseller-Autor vorstellt, bremst Bov Bjergs Stretchlimo mit einer Stunde Verspätung vor dem Café Butter in Prenzlauer Berg. Bjerg steigt aus. Groupies kreischen. Sein Fahrer, in greller Phantasie-Livree, lässt den Motor laufen. Gibt mir High-Five: „Alles cool, Digga. Ist doch Biodiesel!“

Moment. Ich fange noch mal an.

Ein klammer Vormittag. Bjerg steht allein vor dem Café in der Pappelallee. Er ist überpünktlich. Wir gehen rein, finden einen Tisch. Keiner guckt. Am Abend zuvor hat er beim letzten Kabarettistischen Jahresrückblick 2019 auf der Bühne gestanden. Wie seit über 20 Jahren. Unter anderem mit Horst Evers, Manfred Maurenbrecher. Den alten Kumpels vom legendären „Mittwochsfazit“. Jetzt erst mal: Erholen. Den Kopf frei kriegen. Bisschen Urlaub.

„Auerhaus“, später. Vor fünf Jahren ging Bjergs Jugend-Geschichte durch die Decke. Über eine WG von Schülern, die gemeinsam in ein Bauernhaus am Fuße der Alb zieht, um einen von ihnen, Frieder, vom Suizid abzuhalten. Mit dem Ich-Erzähler Höppner, der am Ende nach Berlin geht. Als Frieder tot ist.

Das Buch wurde im „Literarische Quartett“ gefeiert, für die Bühne adapiert, im Kino läuft jetzt Neele Leana Vollmars Verfilmung.

Bov Bjerg, Jahrgang 1965, in der Voralb aufgewachsen, seit Mitte der 80er in Berlin, Lesebühnen-bekannt, war unversehens: Bestsellerautor. In vielen Interviews, auch im tip, sagte er damals kategorisch: „Es gibt keine Auerhaus-Fortsetzung.“

Und jetzt? Was ist „Serpentinen“? „Es ist keine Auerhaus-Fortsetzung“, sagt Bov Bjerg.

Der neue Roman spielt: in der Voralb. Der Ich-Erzähler, um die 50, Soziologie-Professor: wohnt in Berlin. Nennt sich: „Höppner“. Ist mit seinem kleinen Sohn im Auto unterwegs. Zeigt ihm die Orte seiner Jugend. Er erzählt, er grübelt, er trinkt, er erinnert sich, er misstraut seinen Erinnerungen. Und sich selbst.

Denn auf seiner Familie lastet ein Fluch. Vorfahren, die sich umbrachten. Urgroßvater, Großvater, Vater. Wo endet diese fatale Kette?

Man könne, sagt Bjerg, den Ich-Erzähler als den erwachsenen „Höppner Hühnerknecht“ aus „Auerhaus“ deuten. Bjerg nennt es „ein literarisches Spiel“. Ob das alles stimmig ist? Ihm doch egal. So hat der Auerhaus-Höppner Schwestern, der Serpentinen-Höppner nicht. „Wenn es wirklich eine Fortsetzung wäre, hätte ich darauf achten müssen.“

„Auerhaus“ war schwarzer Kaffee, aber mit Süßstoff. Die Schwere wurde leichter, luftiger. „Serpentinen“ dagegen ist wie Kaffee tiefschwarz, ohne Milch, ohne Zucker. Es tippt immer wieder in die Familiengeschichte hinein, wie in ein schwarzes Loch. Gewalt, Krieg, Genozid, Vertreibung. Das Autoritäre der Nazizeit. Es steckt bis heute in vielen Köpfen.

Bjergs knappe, kristallklare Prosa ist dabei von grandios komponierter Unerbittlichkeit. Mit sardonischem Sprachwitz. Jedes Wort steht genau da, wo es hingehört. Jedes Wort trifft. Trifft ins Schwarze. Ins Tiefschwarze. Hallt nach.

Einmal heißt es im Buch: „Diese Scheißwut der Scheißväter. Gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater.“

Die Familienlegenden stimmen selten

Inspiration gab Bov Bjerg die eigene Familiengeschichte. Die Vorfahren in Böhmen, in Österreich, getrennt nur durch einen Bach. Details recherchierte er, das große Ganze war schon da. Seiner Mutter konnte er genau sagen: Guck mal, mit dem Zug seid ihr in den Westen gekommen. Sie sagte: Nein, das muss später gewesen sein. Und er: Nein, das war der einzige Zug, der aus dieser Gegend gefahren ist. Und da warst du dabei. „Familienlegenden“, zuckt Bjerg die Achseln. „Die stimmen selten.“

Jeder seiner drei Romane (das Debüt „Deadline“, 2008, verkaufte sich ganze 224 Mal) spielt in der Voralb. Und umkreist auch das Thema Suizid. Der Alb-Druck.

Was reizt ihm bloß am Selbstmord-Sujet?

„Reiz ist zu viel gesagt.“ Lachen. „Es ist ein Thema, das mich schon sehr, sehr lange beschäftigt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“

Aber was macht so ein Stoff mit einem?

Bov Bjerg: „Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass ein Suizid eine Aggression gegenüber denjenigen ist, die zurückbleiben.“

Nicht das Schreiben mache ihm Spaß, hatte er 2018 im Vorstellungsvideo zum Bachmannpreis gesagt, dort gewann er mit dem ersten „Serpentinen“-Kapitel den Deutschlandfunk-Preis. Sondern das Überarbeiten. Kurz bevor „Auerhaus“ erschien, mietete er sich einen Büroplatz. Mit dem dritten Kind war die Familienwohnung unweit des Cafés zu eng  geworden. „Wo ich anfangs noch dachte: Scheiße, kann ich mir das überhaupt leisten?“

Derzeit verkaufte „Auerhaus“-Zahl: 250.000. Das ist die Zahl, die er zuletzt hörte. 

Eine Sache habe er von Horst Evers gelernt, erzählt Bov Bjerg. Seit der Erfolg hat, hält er sich alle Schulferien frei. „Als das mit Auerhaus losging, habe ich das übernommen.“

Seit Klagenfurt habe er, der lange mit der Bezeichnung „Kabarettist“ haderte („Ich lese seit 30 Jahren nur Texte vor!“) plötzlich den „Stempel Hochliteratur auf der Stirn“, sagt er. Klar ist: Anders als „Auerhaus“ findet „Serpentinen“ sofort viel Beachtung. Der „Spiegel“  machte eine Doppelseite. Sogar eine Woche, bevor das Buch am 31. Januar erschien.

Wird er, als Bestseller-Bov, im Kiez, wo er seit Jahren lebt, eigentlich  öfter erkannt? „Zum Glück nicht, ich bin ja kein Fernsehgesicht.“ Und in der alten Heimat, in Göppingen? Bov Bjerg lacht. „Ach, da kennt mich niemand!“


Serpentinen Claassen Verlag, 272 S., 22 €

Buchpremiere: Palais in der Kulturbrauerei, Schönhauser Allee 36, P’ Berg, Di 11.2., 20 Uhr, Eintritt: 11,70 €

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