Gruppenausstellung

„Zeit für Fragmente“ im Hamburger Bahnhof

Seit der Moderne ist klar, dass das Ganze eine Fiktion ist. Eine Ausstellung im Hamburger Bahnhof macht klar: Wir leben in einer „Zeit für Fragmente“

Vor Andy Warhol war keine Spielerei der Populärkultur sicher, noch nicht mal das Malen nach Zahlen: „Do It Yourself (Seascape)“, Detail, aus dem Jahr 1962
Foto: Jochen Littkemann / Andy Warhol / bpk / Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, SMB, Sammlung Marx / 2019 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by Artists Rights Society (ARS), New York

„Das Ganze ist das Unwahre.“ Das wusste schon Adorno, der in der Auseinandersetzung mit der Vorrede zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“ zu dieser Erkenntnis kam. Marcel Duchamp hingegen wurde – so berichtet es Anaïs Nin in ihren Tagebuchaufzeichnungen vom September 1934 – seinerzeit von den Zeitläuften getrieben, sich dem Fragment zuzuwenden. Zitiert wird er mit den Worten: „Dies ist keine Zeit, um irgendetwas zu vollenden. Dies ist eine Zeit für Fragmente.“ Von diesem Zitat ließ sich Nina Schallenberg, Kuratorin am Hamburger Bahnhof, inspirieren, als es darum ging, aus den Beständen der Sammlung Marx und der Sammlung der Nationalgalerie eine zeitgemäße Ausstellung zusammenzustellen.

Macht ja auch Sinn, schließlich zeichnet sich die gesellschaftliche Gegenwart dadurch aus, dass jenseits der klassischen Abbruchkanten neue Verwerfungen entstanden sind: Bestand früher weitgehende Einigkeit über Tatsachen und entfalteten sich Meinungsverschiedenheiten erst an widerstreitenden Interpretationen, so beginnt der Streit heute bereits dort, wo sogar offizielle Stellen ein Paralleluniversum der „alternativen Fakten“ beschwören – von wo aus es übrigens nicht mehr weit zu klassischen Topoi der „Art Brut“ ist, die der Hamburger Bahnhof bereits mit der Ausstellungsreihe „Secret Universe“ ausführlich gewürdigt hat.

Eröffnet wird der Rundgang durch diese durchaus kopflastige, aber dennoch sehenswerte Ausstellung im Westflügel des Hamburger Bahnhofs mit „No solid form can contain You“ (2010), einer Arbeit von Mariana Castillo Deball. Dieser Fiberglas-Abdruck der 1790 auf der Plaza Mayor in Mexiko Stadt entdeckten Coatlicue-Statue – heute im Museo Nacional de Antropologica – thematisiert einerseits die Kolonialgeschichte und auch gesellschaftliche Machtstrukturen. Andererseits verweist sie auf Eigenschaften, die Götterbildnisse zu jeder Zeit und überall haben können: von außen und aus der Ferne betrachtet faszinierend, von innen leer und an den Rändern ihrer einzelnen Bestandteile gerade mal halbwegs solide verschraubt.

Gleich in mehreren Sektionen der Ausstellung – nämlich „Bruchstücke“, „Überbleibsel“, „Teile“ und „Momente“ – ist der von vielen noch immer kritiklos vergötterte Joseph Beuys mit raumgreifenden Arbeiten wie „Das Ende des 20. Jahrhunderts“ (1982 bis 1983) oder „Unschlitt“ (1977) präsent. Man könnte auch sagen: überpräsent. An sich starke Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern wie Marina Abramovic und Ulay oder Franz West werden leider von Beuys’ mächtigen „Richtkräften einer neuen Gesellschaft“ (1974 und 1977) an die Wand gedrückt. Mehr Platz zur Entfaltung hat Anish Kapoors „1000 Names“: Fünf mit rotem Pigment bestreute Formen scheinen aus dem Boden zu wachsen und ermahnen uns auf poetische Weise, auch jene Dinge zu bedenken, die sich wie die Unterseite eines Eisbergs normalerweise dem Blick entziehen.

Auch im Obergeschoss gilt es, weitere, teils spektakuläre Entdeckungen zu machen. Neben Werken der üblichen Verdächtigen – Andy Warhol, Robert Rauschenberg, Hans-Peter Feldmann – ist ein eigener Raum mit drei Videoarbeiten William Kentridge gewidmet, der sich auf humorvolle Weise der Frühzeit des Kinos nähert. Ebenfalls besonders bemerkenswert ist die dialektisch anmutende Präsentation dreier Leinwände Cy Twomblys, die sich wie These, Antithese und Synthese zueinander verhalten. Immerhin indirekt anwesend ist dann auch der Ideengeber dieser Ausstellung: „Not Wanting to Say Anything About Marcel“ nannte John Cage seine 1969 entstandene Installation aus Siebdrucken auf Plexiglasscheiben.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50–51, Tiergarten, Di–Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa+So 11–18 Uhr, 24./31.12. geschlossen, 25./26.12. 11–18 Uhr, 1.1. 12–18 Uhr, bis 4.10., Eintritt 10/erm. 5 €

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