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Corona-Spaziergänge: Kastanienallee – Menschenlos durch die Nacht

Der fünfte Corona-Spaziergang führt unseren Autor Erik Heier durch die abendliche Kastanienallee in Prenzlauer Berg bis nach Mitte

Auf der Kastanienallee sind kaum noch Menschen unterwegs. Foto: imago images / Seeliger
Auf der Kastanienallee sind kaum noch Menschen unterwegs. Foto: imago images / Seeliger

Die Kastanienallee am Abend, Viertel nach acht: eine Leerstunde. Menschenlos durch die Nacht. Keine Passanten, nirgends. Was ist denn hier los?

Ich treffe einen guten Freund an der Ecke Schönhauser zum Allee-Defilee. Mit zwei Meter Sicherheitsabstand. Wir schauen in die Straße wie in einen schwarzen Schlund. „Wow, so leer habe ich die Straße zuletzt in den 90ern gesehen, bei minus 20 Grad“, sagt der Freund. Frostkalte Winter, stimmt, das ist auch so ein Ding von früher. Das war mal. Kommt das je wieder?

Beim Späti kurz hinter der Ecke ist noch Licht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Wegbier. Prost. Zwei Flaschen klirren aneinander. Dieses wunderbare Geräusch, eine Ahnung von früher. Das waren jetzt aber keine zwei Meter Abstand. Egal. An der Bäckerei Steinicke klebt ein Schild auf den Außentischen: „Tisch gesperrt. Bitte nicht Platz nehmen.“

Schon klar. Wir wollten sowieso gehen.

Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sitzen. Foto: Erik Heier
Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sitzen. Foto: Erik Heier

Unsere tip-Corona-Spaziergänge durch Berlin haben ein gemeinsames Motto, das sich durchzieht durch die Quasi-Quarantäne-Zeit. Leere. Platz. Raum. Und das Erstaunen darüber, was dieser Raum mit einem macht. Wenn an den Orten, wo man das Gedränge gewohnt ist, plötzlich nur Geraune ist. Diese Erinnerungen. Die Geister. Das Innehalten.

Vorbei am Prater, dem ältesten Biergarten Berlins, wie es heißt. Wie oft saßen wir hier früher beisammen, dicht an dicht? Was wäre hier jetzt los ohne Corona? Die Hölle, der Himmel. Der wunderbare, trunkene, gesprächsflirrende Wahnsinn.

Gleich daneben: Fahrrad Linke. Gibt’s auch seit mehr als 100 Jahren. Das rotierende Leuchtrad über dem Laden flimmert durch die Nacht. Als wäre alles wie immer.  

Der fast vergessene Pflaster-Zoff

Und der Gehweg, dieser historische, holprige, heitere Gehweg, das alte Kopfsteinpflaster, es gehört uns fast allein, wie wir dahin gehen. Wie viele Jahre ist es her, dass eine Bürgerinitiative darum kämpfte, dieses historische Pflaster in voller Breite zu erhalten? Weil der Bezirk eine Umgestaltung plante, mit Parkbuchten zulasten dieser vollen Breitseite. Acht, neun Jahre? Die Zeit verschwimmt. Werden wir irgendwann die Zeit nur noch in ein Vor-Corona und Nach-Corona teilen?

Jetzt mag der Bürgersteig, der historische, schmaler geworden sein wegen der neuen Parkbuchten. Aber uns beiden, das Wegbier in der Hand, reicht er völlig. Ist fast zu breit. So ändern sich die Zeiten. Aber es wird wieder anders kommen, verdammt. Es muss.

Ein Jogger federt vorbei. Zwei junge Männer überholen uns. Eine Familie schiebt einen Kinderwegen über die Straße. Und ein Flaschensammler kämpft auf dem schwer beladenen Fahrrad unverdrossen gegen den kalten Wind.

Nein, wir haben noch nicht ausgetrunken, Freund. Aber bald.

Vorbei an einem Immobilien-Firma-Schaufenster. Wohnungsofferten, als gäbe es noch ein Morgen. „Bezugsfertig Oktober 2020“, lockt ein Aushang. Knapp 80 Quadratmeter für knapp 330.000 Euro. Ist das schon ein Schnäppchen?

Hey Gott, auch im Home Office? Ich frage ja nur

Über der Straße: die Kastanienallee 86, das„Tuntenhaus“, ein alternatives Wohnprojekt, kurz nach der Wende entstanden. Die großen Fassadenbuchstaben leuchten im Protest. „Kapitalismus normiert/zerstört/tötet.“ Wenn irgendwas die Corona-Krise überlebt, dann Mieterhöhungen.

"Tuntenhaus" in der Kastanienallee: leuchtende Buchstaben in der Nacht. Foto: Erik Heier
„Tuntenhaus“ in der Kastanienallee: leuchtende Buchstaben in der Nacht. Foto: Erik Heier

Es ist kalt, die Nacht ist finster. Wir sind immer noch fast allein mit uns und der Allee, in Höhe Zionskirchplatz. Die große Kirche leuchtet wie ein Monolith in der Nacht. Hey Gott, was machst du eigentlich gerade so den ganzen Tag? Auch im Home Office? Ich frage ja nur.

In einem Hotel brennt noch Licht in den Zimmern. Interessant. Wer lebt da jetzt noch?

Wir drehen um an der Grenze zum Bezirk Mitte. Zurück in Richtung Schönhauser. Unser beider Wegbier ist jetzt ganz schön ausgetrunken. So können wir ja nicht weitergehen.

Dieses Gefühl der Leere, es erinnert ein bisschen an Danny Boyles 2002er Film „28 Days Later“. Die Anfangssequenz. Das rätselhaft leere London. Ein einzelner, stolpernder Mann.

Und dann kamen die Zombies.

So gesehen haben wir mit Corona noch Glück. Bisher. Die einzigen Zombies, die wir haben, horten Klopapier und Kidneybohnen. Aber noch ist nicht aller Abende Tag.

Man müsste übrigens mal wieder ein paar Epidemie-Filme bingen, denke ich.

„Der Pate“ und die Videothek

Die letzte Videothek in der Allee, zwischen Zionskirchplatz und Schwedter Straße, dieser wunderbare Anachronismus in Internet-Zeiten, sie  schließt gerade. Moment. Die Videothek war noch offen? Wo fast alles dicht machen muss? Gilt wohl als Späti. Die sind die einzigen Läden in dieser einst so wuseligen Straße, die noch ein Rest Leben reinpusten, wie ein Beatmungsgerät, hier und da und dort. Wo sollten wir uns sonst Luft machen?

Video Service: Marlon Brando macht den Laden dicht. Foto: Erik Heier

Es ist kurz vor neun. Als wir also am „Video Service“ vorbeigehen, rasseln die Jalousien runter, krrretsch, krrretsch. Die Lamellen sind kunstvoll bemalt mit „Der Pate“-Konterfeis. Erst fällt Al Pacino nieder. Dann Marlon Brando. Sie machen den Laden dicht. Blicke, mit denen nicht gut Kirschen essen ist. Ein Angebot, das Sie jetzt ablehnen müssen. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts mehr zu kaufen.

Okay.

„Bleibt zu Hause“, steht an der Restaurant-Tür

Am Restaurant Ilsebill steht, es ist herzzerreißend, geschrieben: „Wenn Ihr nichts esst, müssen W.I.R. verhungern!“ Und eine flehende Bitte: „Bleibt zu Hause, wenn ihr nicht raust müsst. Vermeidet Menschenansammlungen und halten Abstand zueinander. Sonst müssen viele geliebte Menschen sterben!“ Zettel, wie man sie jetzt überall in der Stadt findet.

Wir sind fast wieder an der Ecke Schönhauser Allee. Da, ein weiterer Späti. Noch ein letztes Wegbier. Ich staune. Die haben hier nirgendwo die Bierpreise erhöht. Wohl den Kapitalismus ignoriert. Angebot, Nachfrage. Bang!

Und wie isses hier so in der Fast-Quarantäne?

„Ach, der Mauerpark war wieder voll“, sagt der Späti-Mann. „Irgendwann kommt bestimmt die Polizei und sagt uns, dass wir den Leuten nichts mehr verkaufen dürfen. Sonst sind wir schuld.“

Okay, wir nehmen denn noch zwei Bier.

Dann sitzen wir, der Freund und ich, auf den Stühlen vor dem Café Marlene kurz vor der Kreuzung der Kastanienallee zur Schönhauser Allee, nebenan haben es sich drei junge Frauen gemütlich gemacht, in zwei Meter Abstand, mindestens. Das bestbesuchte geschlossene Café der Kastanienallee. Vielleicht des ganzen Prenzlauer Bergs.

Ein der Frauen steht auf, kreuzt die Straße, da drüben ist der Späti, wo wir unser erstes Wegbier kauften, und eine der anderen jungen Frauen ruft ihr nach: „Bring mir ein Sterni mit!“

Es hallt durch die Allee, es hallt durch die Nacht.

Der gute Rat des Bettlers

Und dann, wir wollen gerade gehen, kommt ein Bettler vorbei, respektvoll, er hält Abstand, zwei Meter mindestens. Und bittet um Kleingeld. Und wir graben mit klammen Fingern in den Taschen, hier eine Münze, da noch eine, dort auch, und lassen sie in seine Hand fallen, das sind jetzt auch keine zwei Meter. Aber es ist egal, es ist in Ordnung.

Und der Bettler, der nicht alt ist und nicht jung, er nickt uns zu, mir, meinem Freund, den drei jungen Frauen, und sagt: „Lasst euch nicht unterkriegen.“  Dann zuckt er die Schultern: „Man muss es nicht übertreiben, aber auch nicht untertreiben.“

Und ich denke: Besser kann man diese Corona-Krise nicht zusammenfassen. Für diesen Abend. Für diesen Moment. Für diese Zeit.

Genau. Bloß nicht untertreiben. Fuck yeah.


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