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Corona-Spaziergänge: „Tanz den Untergang mit mir“ im Wedding

Der siebte Corona-Spaziergang führt unsere Autorin auf einen Streifzug über den Leopoldplatz quer durch den Wedding. Dabei ist ihr Neid auf Menschen, die Wohnungen mit Balkon haben, gewachsen.

Corona-Spaziergänge: Der Leopoldplatz ist nicht so voll wie sonst, leer aber auch nicht.
Der Leopoldplatz: Nicht so voll wie sonst, aber auch nicht leer. Foto: Xenia Balzereit

Ich stehe am Fenster und blicke auf die Seestraße. Könnte sein, dass ich mir das einbilde, aber ein bisschen weniger befahren ist sie durchaus. Es ist schon wieder Mittag, die Zeit im Home Office verfliegt so schnell. Draußen scheint die Sonne, ich halte es nicht mehr aus: Ich muss raus aus meiner engen Wohnung.

Im Hinterhof begegnet mir eine Nachbarin mit ihrem Hund. Sie trägt Mundschutz, er Maulkorb. „Otto, jetzt zieh doch nicht so“, sagt sie zu ihm. „Ich hab dir schon drei Mal gesagt, du sollst nicht so ziehen, warum kapierst du das nicht. Wenn du jetzt nicht aufhörst, gehen wir gleich wieder rein!“ Manche Leute reden mit ihren Tieren, als wären sie Menschen.

Corona-Spaziergänge: Desinfektionsmittel beim Späti

Die Seestraße ist weniger belebt als sonst, von „leer gefegt“ aber kann keine Rede sein. Zuerst gehe ich in den Schillerpark, ich will mein Gesicht kurz in die Sonne halten. Aber vorher noch kurz zum Späti: Dort befindet sich jetzt ein Tisch vorm Tresen, damit die Kund*innen mindestens 1,5 Meter Abstand zu den Verkäufern halten. Darauf steht eine Flasche mit Desinfektionsmittel. Eigentlich wollte ich es nicht benutzen, aber dann merke ich, dass der Verkäufer Schnupfen hat. Leider kommt aus der Flasche mit Pumpmechanismus nichts mehr raus.

Im Schillerpark setze ich mich an einen Baum gelehnt auf die Wiese und beobachte einen Vater mit seinem kleinen Sohn beim Fußballspielen. Ein Stück weiter sitzen drei Menschen zusammen auf einer Decke. Ich ertappe mich dabei, wie ich in ihren Gesichtern nach Familienähnlichkeit suche. So ein Quatsch, es könnte sich hier ja auch um Bewohner*innen derselben WG handeln. Nach einer Viertelstunde kommt ein Polizist und bittet mich, zu gehen: „Sich grundlos draußen aufzuhalten, ist nicht mehr erlaubt“, sagt er. „Entweder Sie gehen nach Hause oder Sie fangen jetzt an, Sport zu machen.“ Ich gehe – aber nicht nach Hause. Gilt spazieren gehen eigentlich als Sport?

In der Amsterdamer Straße stehen zwei Mädchen auf Balkonen im selben Stockwerk eines Hauses und unterhalten sich. Ein bisschen rufen müssen sie schon. Auch auf den anderen Balkonen sitzen, stehen und gärtnern ungewöhnlich viele Menschen.

Corona-Spaziergänge: Mit Balkon ist der Shutdown leichter zu ertragen

Wenn ich in coronafreien Zeiten an leeren oder lieblos hergerichteten Balkonen vorbeigegangen bin, dachte ich mir immer: „Ich hätte den Balkon viel mehr verdient, die benutzen den ja gar nicht.“ Diese Gedanken habe ich jetzt nicht mehr. Trotzdem: wer dieser Tage einen Balkon oder gar eine Dachterrasse hat, für den ist der Shutdown leichter zu ertragen als für all die Menschen in kleinen, dunklen Wohnungen. Von einem Haus mit Garten fange ich gar nicht erst an. Wer nicht viel Geld hat und in der Stadt wohnt, der hat in dieser Krise Pech gehabt.

Der Spielplatz in der Maxstraße ist gesperrt. Davor stehen fünf Männer in einem Kreis mit je mindestens zwei Metern Abstand zueinander – so, als würden sie sich einen Fußball zuspielen. Einen Ball aber haben sie nicht dabei. Ein Polizeiwagen hält auf der Straße neben den Männern. Die Polizisten beobachten die Männer vom Auto aus, mehrere Minuten lang. Dann sind die Momente der Anspannung vorbei, die Polizisten fahren weiter, die Männer lachen. Ich finde, die Polizei sollte mal lieber am Leopoldplatz vorbeifahren. Zwar halten dort die meisten Menschen, die auf den Bänken rund um den Platz sitzen, Abstand voneinander. Doch vorm Café Leo sitzen ein paar Senior*innen gemütlich zusammen.

Corona-Spaziergänge: Ein Streifzug durch den Wedding
Alle Spielplätze im Bezirk Wedding sind derzeit gesperrt. Foto: Xenia Balzereit

Corona-Spaziergänge: „Ich bin nicht stolz darauf, arm zu sein“

Ich gehe vorbei am Himmelbeet, das verwaist in der Sonne liegt. Dort haben Weddinger*innen einen Gabenzaun oder besser: ein Gabenschild, eingerichtet: In der ganzen Stadt hängen Bürger*innen Lebensmittel und Kleidung für Bedürftige an ausgesuchte Zäune. Zwei Frauen durchstöbern die Beutel mit der Kleidung. Ob hier regelmäßig neue Beutel auftauchen, frage ich. „Weiß nicht. Sonst sitze ich ja immer da drüben, da hätte ich dir das sagen können, aber darf ich ja jetzt nicht mehr“, sagt eine der beiden Frauen. Als ich den Zaun fotografiere, bittet sie mich, darauf zu achten, dass ihr Gesicht nicht zu sehen ist. „Ich bin nicht stolz drauf, arm zu sein“, schiebt sie hinterher.

 Ein Streifzug durch den Wedding in der Corona-Krise.
Das Gabenschild am Himmelbeet. Foto: Xenia Balzereit

In der Gerichtstraße hängt ein Transparent von einem Balkon: „Moria und alle Lager evakuieren. #LeaveNoOneBehind.“ Es ist das erste Transparent auf diesem Spaziergang, das an die Lage der Geflüchteten auf den griechischen Inseln während der Corona-Krise erinnert, das aufruft zur Solidarität mit denen, denen es schlechter geht als uns und die das Virus noch härter trifft. Ich hatte mich schon gefragt, wann er sichtbarer wird, der rote Wedding, der laute Wedding, der Bezirk der Arbeiter*innen. Nicht weit von hier ist die Kösliner Straße, das alte Zentrum der Berliner Roten in der Weimarer Republik.

Der Wedding zwischen Solidarität für Geflüchtete und Bedürftige zu Corona-Zeiten.
Solidarischer Wedding. Foto: Xenia Balzereit

Ich aber gehe in die andere Richtung, Nettelbeck Platz. Dort sitzen ein paar Menschen auf den roten Sitzbänken, die die Bäume einrahmen. Der Magendoktor: geschlossen. Nach Angaben der Betreiber*innen hatte die Kneipe seit den 1970er Jahren ununterbrochen geöffnet. Ob der Magendoktor wohl auf einen Eintrag im Guinessbuch der Rekorde geschielt hatte? So oder so, dass das Virus Pläne durchkreuzt hat, davon kann man ausgehen.

Corona-Spaziergänge: „Tanz den Untergang mit mir“

Auf die Wand, die die S-Bahn-Gleise der Ringbahn schützen soll (oder die Menschen vor dem Lärm der S-Bahn), hat jemand mit schwarzer Farbe den Satz „Tanz den Untergang mit mir“ gesprüht. Könnte sein, dass das Graffito da schon vor ein paar Wochen stand, ich bin mir nicht ganz sicher. Ist ja auch egal, denn es passt mit Berlin, dieser Stadt, in der tanzen so sehr zum Lebensgefühl gehört, zusammen wie Arsch auf Eimer. Oder Viren und feuchte Oberflächen. Vor zwei Wochen noch haben ja auch viele Uneinsichtige den Untergang bei Corona-Partys getanzt.

Hier auf dem Nettelbeck Platz brauchen anscheinend auch Musik: Aus drei verschiedenen Boxen schallen mir Bässe entgegen. Einer hört Acid House, einer türkische Lieder und von weiter weg höre ich furchtbaren EDM-Sound. Der Mann mit den Acid-House-Tunes hat Wein im Tetrapack dabei und unterhält sich mit einem Typen mit Mütze von einer Bank zur nächsten – drei Meter Abstand sind das mindestens. „Kann sein, dass die nächste Woche zu machen hier.“ Er deutet auf einen Imbiss mit Döner im Angebot. Der Dönerladen direkt daneben ist schon geschlossen. „Dann haben wir hier gar nichts mehr, nur noch Netto.“

Unterwegs im Wedding während der Corona-Krise.
„Menschenfrei 2020“? Keine schöne Vorstellung. Foto: Xenia Balzereit

Entlang der Müllerstraße gehe ich zurück. Vor der Post hat sich eine lange Schlange gebildet. Sie ist noch länger als sonst, weil die Menschen tatsächlich gute 1,5 Meter Abstand voneinander halten. Mein Handy vibiriert. Ein Freund hat mir per What’s App ein Bild von einem Graffito an einer Hauswand in der Prinzenallee/Ecke Osloer Straße geschickt. „Menschenfrei 2020“ steht da. „Fast“, denke ich mir. „Aber nicht ganz.“


Mehr Corona-Spaziergänge

Jacek Slaski hat den ersten Corona-Spaziergang quer durch Friedrichshain gemacht. Der zweite geht quer durch das Herz von Kreuzberg. Der dritte führte durch das verwaiste Zentrum der Stadt: Mitte. Im vierten geht Bert Rebhandl von Kreuzberg zum Treptower Park und zurück.

Mehr zur Corona-Krise in Berlin

Das Coronavirus ist eine echte Bedrohung für die Gesundheit, aber auch für die finanzielle Existenz der Berliner*innen. Ihr wollt helfen? tip Berlin hat ein Portal eröffnet, auf dem sich Hilfesuchende und die, die helfen wollen, vernetzen können: https://www.tip-berlin.de/tip-hilft/

Alle News und Entwicklungen zur Pandemie findet ihr in unserem Corona-Blog. Speziell um die Situation der Berliner Gastronomen geht es in unserem Corona-Foodblog. Gut geht es ihnen nämlich nicht: Hier geht es zum Offenen Brief der Berliner Gastronomie an den Regierenden Bürgermeister.

Spazieren gehen ist ja schön und gut, aber die meiste Zeit muss man doch zu Hause bleiben. Wir empfehlen 100 Berlin-Romane, die jeder kennen sollte.  Keine Lust auf lesen? Hier gibts unsere Podcast-Tipps – und was sich auf Streaming-Services lohnt. Trotzdem nicht fündig geworden? Wir listen 15 Dinge, die man zu Hause machen kann.

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