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Corona-Spaziergänge: Vom Potsdamer Platz bis zum Winterfeldtmarkt

Der neunte Corona-Spaziergang führt vom Potsdamer Platz, wo sich die Leere verdoppelt hat, über die Potsdamer Straße und den verwaisten Drogenstrich, an einer urbanen Idylle vorbei zum Winderfeldtmarkt. Er endet in einem Paralleluniversum

Der Potsdamer Platz in Berlin ist wegen der Corona-Krise leer.
Gähnende Leere: Der Potsdamer Platz in Zeiten von Corona. Rechts sieht man ein gelbes Mauersegment. Foto: Jacek Slaski

Der Leipziger Platz ist verwaist, eine alte Frau sitzt auf einer Bank gegenüber von Air China. Die Assoziation ist sofort da, Air China und Corona. Ein Kurzschluss, dem ich mich nicht erwehren kann. Ich folge der Leipziger Straße zum Potsdamer Platz. Der 300er-Bus fährt vorbei, es sitzt niemand drin, seit mindestens zehn Minuten ist auch niemand aus der U- und S-Bahn herausgekommen. Die Sonne scheint, es ist Samstag, normalerweise würden sich hier die Touristen tummeln und rund um die Mall of Berlin wäre es dichtgedrängt. 

Ich muss an die 1980er-Jahre denken, die Mauersegmente, die hier bemalt als Denkmäler herumstehen, öffnen einen Weg in die Vergangenheit. Sie erinnern an jene Zeit, als der Potsdamer Platz eine riesige Brache mitten in der Stadt war. Wim Wenders fängt in „Der Himmel über Berlin“ diese unheimliche Stimmung ein. Er begreift den Potsdamer Platz, mit all seinen geschichtlichen Abgründen, als Sinnbild dieser Stadt. Vor dem Krieg war er der Mittelpunkt einer brodelnden Metropole, die auf dem Vulkan tanzte. Nach dem Krieg ein vergessener Ort und seit dem Mauerfall der kläglich gescheiterte Versuch, diesen Platz zum Symbol einer wiedervereinigten Stadt umzumünzen. 

Corona-Spaziergang: Sogar der McDonald’s am Potsdamer Platz ist verschwunden

Der Potsdamer Platz hat ja schon vor Corona Probleme gehabt, die Potsdamer Arkaden stehen leer, das CineStar ist aus dem Sony Center weggezogen, sogar der McDonald’s ist verschwunden. Vernünftige Bars oder Restaurants gibt es auch nicht. Kaum jemanden zieht es hierher, die Berliner sowieso nicht und auch die Touristen fragen sich vermutlich, was das alles soll. Nur während der Berlinale ist noch richtig was los.

Potsdamer Platz und lego Discovery Center in Berlin während der Corona-Krise.
Die Plastikgiraffe vor dem Lego Center blickt in die Leere des Potsdamer Platzes. Foto: Jacek Slaski

Die großspurig geplante und doch so duckmäuserisch wirkende Architektur, kann der pandemischen Leere nur mit ihrer Mittelmäßigkeit trotzen. Jetzt steht sie verloren zwischen Philharmonie, Park und dem Gropius-Bau herum. Es gibt hier nichts, was ein Stadtzentrum definieren würde. Downtown in den USA nach Büroschluss. Es ist traurig. Vielleicht ist die Leere auch deshalb so bedrückend, weil hier ein leerer Ort noch leerer ist. Eine negative Verdopplung. 

Die Einstürzenden Neubauten, die sich schon immer sowohl mit Berlin als auch mit Architektur, oder eher der Negation von Architektur, beschäftigt haben, bringen es in „Die Befindlichkeit des Landes“ auf den Punkt: 

Die neuen Tempel haben schon Risse
künftige Ruinen 
einst wächst Gras auch über diese Stadt 
über ihrer letzten Schicht

„Einst wächst Gras auch über diese Stadt“, mit dieser Zeile im Ohr gehe ich endzeitgestimmt durch das Sony Center. Am Kino Arsenal und dem geschlossenem Dussmann-Museumsshop vorbei. Aus dem Schaufenster blicken mich Bowie und Tarantino an. Auch die Popikonen können unserem kleinen Weltuntergang mit Ablaufdatum nichts entgegensetzen. Nur der Starbucks hat noch geöffnet, das Personal wartet mitten im Nichts auf Kundschaft. Ein existenzielles Bild des Kapitalismus. 

Staatsbibliothek und Neue Nationalgalerie werden saniert, die Philharmonie ist dicht, so wie das ganze Kulturforum. Das kulturelle Herz Berlins schlägt nicht mehr. Man registriert es, mehr nicht. Weiter zur Potsdamer Straße. An der Bushaltestelle sitzt ein einsamer Mann mit einem einsamen Bier und einer Plastiktüte, er sieht aus, als hätte er auch vor Corona schon einen Sicherheitsabstand von zwei Metern zu seiner Umgebung eingehalten.

Ich denke an die ungezählten Menschen, die die Potsdamer Straße entlanggelaufen sind, als der tip noch seine Büros hier hatte und als der Schriftsteller Jörg Fauser noch der Literaturredakteur und das Quartier Latin gleich gegenüber einer der wichtigsten Musikclubs in West-Berlin waren. 

Der Sexshop LSD in der Potsdamer Straße in Berlin
Der Sexshop LSD, hier ist normalerweise der Drogenstrich. Foto: Jacek Slaski

Die Potsdamer Straße: Eine wechselvolle Geschichte zwischen Glanz und Abgrund

Die Geschichte der Potsdamer Straße ist tatsächlich das, was man als „wechselvoll“ bezeichnen kann. Sie glänzt und sie driftet in den Abgrund. Heute koexistieren hier teure Restaurants, Design-Shops und schicke Galerien neben dem Drogenstrich, Sexläden, billigen Imbissen und Spielhallen. Und Subkultur-Institutionen wie dem Kumpelnest 3000. Fiona Bennetts Hutladen, eine Boutique mit einer Ausstellung des Illustrators Christoph Niemann, eine Sky Sport Bar. Alle sind gleichermaßen von der Pandemie betroffen, auch wenn sonst Welten zwischen den Orten stehen. 

Nur die Queen of Muffins und Kaplan Döner verkaufen noch außer Haus. Ich biege an dem riesigen Sexshop LSD – Love Sex Dreams – in die Kurfürstenstraße, hier ist normalerweise der Drogenstrich. Derzeit ist die Prostitution offiziell verboten. Ob man sich hier an Gesetze hält, ist aber eher fragwürdig. Allerdings wartet gerade niemand auf Kundschaft, vielleicht ist es dafür auch noch zu früh. 

Der Winterfeldtmarkt in Berlin Schöneberg ist auch in der Corona-Zeit gut besucht.
Der Winterfeldtmarkt ist erstaunlich gut besucht. Auch in Corona-Zeiten wollen die Schöneberger nicht auf frisches Obst und Gemüse verzichten. Foto: Jacek Slaski

Hinter der Zwölf-Apostel-Kirche ist ein kleiner Platz mit einem kleinen Garten. Die Blumen blühen, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Es ist eine Oase mitten in einer hässlichen Ecke der Stadt. Ein Ort zum innehalten, um vielleicht an die Schönheit zu denken und eine Zeit nach Corona. Über die Zietenstraße komme ich auf die Bülowstraße, die Hochbahn fährt leer vorbei. An der Ecke ist das Urban Nation Museum, in dem normalerweise Street Art gezeigt wird. Unter den Gleisen hindurch geht es weiter zum Winterfeldplatz. 

Kein Sperrmüll, kein altes Spielzeug, keine Klamotten

Der Schöneberger Kiez ist ruhig, im Gegensatz zu Friedrichshain oder Kreuzberg hängen hier kaum Corona-Schilder herum und die Leute stellen weniger Sachen auf die Straße. Kein Sperrmüll, kein altes Spielzeug, keine Klamotten, dafür ist der Markt auf dem Winterfeldtplatz da und dort ist relativ viel los. Ich höre Leute husten und niesen, es wird geröchelt und geschnupft. Normalerweise wäre mir das gar nicht aufgefallen, jetzt wirkt es bedrohlich. Die Stände sind gefüllt mit Obst und Gemüse, gutem Käse und Kräutern.

Soll man gerade in der Corona-Krise hier einkaufen und die kleinen Händler unterstützen oder doch zum Discounter gehen, wo alles abgepackt ist und sich irgendwie sauberer anfühlt? Es sind moralische und ethische, ökonomische und hygienische Fragen, die bei einem Marktgang gar nicht angebracht wären und sich jetzt dennoch aufdrängen.

In einem Antiquariat direkt am Winterfeldtplatz endet mein Spaziergang. Zwischen alten Büchern und auf noblen Möbeln, die der Maler Melchior Lechter entworfen hat, sitze ich bei Kaffe, Kuchen und Zigaretten und debattiere mit dem Buchhändler und seiner Stammkundschaft über Friedhöfe, türkische Trödelmärkte, das Gesundheitssystem und die aktuelle Krise. Auch hier, in diesem kleinen Paralleluniversum, geht gerade eine Welt unter und das hat nichts mit Corona zu tun, aber das ist eine andere Geschichte.


Mehr Corona-Spaziergänge

Jacek Slaski hat den ersten Corona-Spaziergang quer durch Friedrichshain gemacht. Der zweite geht quer durch das Herz von Kreuzberg. Der dritte führte durch das verwaiste Zentrum der Stadt: Mitte. Im vierten geht Bert Rebhandl von Kreuzberg zum Treptower Park und zurück. 

Mehr zur Corona-Krise in Berlin

Das Coronavirus ist eine echte Bedrohung für die Gesundheit, aber auch für die finanzielle Existenz der Berliner*innen. Ihr wollt helfen? tip Berlin hat ein Portal eröffnet, auf dem sich Hilfesuchende und die, die helfen wollen, vernetzen können: https://www.tip-berlin.de/tip-hilft/

Alle News und Entwicklungen zur Pandemie findet ihr in unserem Corona-Blog. Speziell um die Situation der Berliner Gastronomen geht es in unserem Corona-Foodblog. Gut geht es ihnen nämlich nicht: Hier geht es zum Offenen Brief der Berliner Gastronomie an den Regierenden Bürgermeister.

Spazieren gehen ist ja schön und gut, aber die meiste Zeit muss man doch zu Hause bleiben. Wir empfehlen 100 Berlin-Romane, die jeder kennen sollte.  Keine Lust auf lesen? Hier gibts unsere Podcast-Tipps – und was sich auf Streaming-Services lohnt. Trotzdem nicht fündig geworden? Wir listen 15 Dinge, die man zu Hause machen kann. Updates zur Lage in Berlin auf der Seite des Senats.

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