Kommentar

Ungerechtigkeit: In welcher Welt leben wir nach Corona?

Corona wirft ein Schlaglicht auf die bestehende Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Aber in welcher Welt werden wir nach dieser Krise leben? Unsere Autorin Aida Baghernejad ist nicht sehr hoffnungsvoll.

Leere Regale bei Supermärkten und Discountern offenbaren Ungerechtigkeit. Gerade für Schwächsten der Gesellschaft bleibt nichts mehr übrig. Foto: Barbara Ruff
Leere Regale bei Supermärkten und Discountern offenbaren Ungerechtigkeit. Gerade für Schwächsten der Gesellschaft bleibt nichts mehr übrig. Foto: Barbara Ruff

Dieser Tage sieht man die Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft so klar wie selten. Die einen beschweren sich darüber, wie sie das Homeoffice und das Homeschooling unter einen Hut bringen sollen, die anderen sprechen vielleicht nicht mal genug Deutsch, um die Aufgaben zu verstehen, die sie beibringen sollen, oder haben nicht das Equipment für den Digital Classroom. Die einen stehen beim Supermarkt an, die anderen – wie ich selbst ja auch – erkaufen sich eben das stressfreie Einkaufen mit den vielfach höheren Preisen im Biomarkt.

Wo Ungerechtigkeit sichtbar wird

Den einen ist durch #StayTheFuckHome ihre autoritäre Ader erwacht, die anderen sind so systemrelevant, dass sie auf dem Weg zum unterbezahlten Job in noch vollgedrängteren Bahnen stehen müssen, weil die BVG ihre Taktung runtergefahren hat. Die einen haben einen festen sozialversicherungspflichtigen Job, den anderen ist von einen Tag auf den anderen die gesamte Branche vor ihren Augen verschwunden – wir denken da als Kulturmagazin ja gerade an die Kunst, die Musik, die Gastronomie. Die Liste könnte ewig so weitergehen. Was bezwecke ich damit? Nun, egal was passiert: Die Zeit danach wird erstmal verdammt schwer.

Was ist essentiell für unser Fortbestehen?

Die letzte Finanzkrise hat die EU so gut wie zerrissen, zum Aufschwung rechter bis rechtsextremer Parteien und letztlich auch zum Brexit geführt. Austerität war das Gebot nicht nur der Stunde, sondern Jahre. Erst jetzt begannen wir zumindest punktuell, hier und da, in manchen Ecken dieses Landes, wieder über Ausgaben, ach was, auch nur Themen nachzudenken, die vielleicht über unsere Nasenspitze hinausgingen. Klimawandel! Soziale Gerechtigkeit! Antidiskriminierung! Ich habe aber die begründete Befürchtung, dass uns diese Krise wieder auf Jahre zurückwirft. Oder etwas hoffnungsvoller: werfen kann.

Hamstern um jeden Preis. An die anderen wird nicht gedacht. Foto: imago images /Geisser

Machen wir uns nichts vor, diese Themen sind die ersten, die von der Agenda gestrichen werden, wenn das Geld knapp wird. Das einzige, was wir dagegen tun können, ist es fest bei unseren Überzeugungen zu bleiben. Weiter dafür zu kämpfen, dass sich diese Gesellschaft in eine gerechte, offene, wehrhaft antirassistische und antifaschistische verwandelt. Und dass die sozialökologische Transformation kein „nice to have“, kein verzichtbarer Luxus ist, sondern ganz essentiell für unser aller Fortbestehen.

Aber ganz ehrlich: mit der Hoffnung tu‘ ich mich gerade ganz schwer. Ich bin 31 und das ist die dritte Wirtschaftskrise, die ich bewusst erlebe und die zweite, seit ich selbst arbeite. „Boom-bust-cycles“, wie es in der Makroökonomie heißt, sind ja schön und gut. Doch mich beschleicht das Gefühl, dass vom „Boom“, von den fetten Jahren, immer weniger in der Breite der Gesellschaft ankommt. Stattdessen meine ich vielmehr, in einem Dauerzustand wirtschaftlicher Nervosität zu leben. Die Zyklen, sie scheinen immer schneller aufeinander zu folgen. Man bekommt geradezu ein Schütteltrauma – war nicht gerade gestern erst noch 2008? Bankenrettung, Abwrackprämie, Euro-Rettungsschirm?

Fake News fluten Whatsapp und Co.

Wie also soll es weitergehen? Manche haben Hoffnung, dass die Welt hiernach eine bessere wird. „Schau, wie stark der Zusammenhalt ist“, sagen sie. Die Zettel in Hausfluren, die Hilfe anbieten. Die Telegrammgruppen, die sich schnell zusammenfinden, um Supportnetzwerke in ihren Kiezen aufzubauen. Wie die ganze Welt gerade kurz still steht, um Menschen in Risikogruppen nicht zu gefährden. Das ist alles schön, gut und richtig so, aber ich sehe auch: Menschen, die sich den Keller vollhamstern, Internettrolle und Hacker, die die Gunst der Stunde nutzen, Fake News über Whatsapp und Co. zu verbreiten und aggressives Gebaren, wenn man sich auch nur traut, Kritik zu äußern an der beispiellosen und völlig diskussionslosen Einschränkung von Grundrechten. Das lässt mich alles mit einem unguten Gefühl zurück, ich habe Bauchschmerzen, wenn ich an unsere Zukunft denke. Bitte lasst mich falsch liegen.


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