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Bäderkultur

Das Berliner Hallenbad: Auf den Spuren eines Mythos

Berlin, deine Bäder: Nirgendwo sonst versteht man die Hauptstadt so gut, wie in den Bädern Berlins – ihre Vergangenheit und Gegenwart, ihre Ideale und kulturellen Kämpfe

Stadtbad Neukölln, Foto: Patricia Schichl

Die interessanteste Besucherin, die jemals in Berliner Bädern eine ruhige Kugel schob, sitzt heute im Kanzleramt. Am 9. November 1989, dem Wendedatum der jüngeren deutschen Geschichte, legte die 35-jährige Angela Merkel in der Sauna einer Schwimmhalle in Prenzlauer Berg die Beine hoch. Die Erholungssuchende, damals Physikerin an der Akademie der Wissenschaften, frönte an diesem Donnerstag einem Abendritual: auf den hölzernen Bänken des Heißluftbads den Forscherehrgeiz einmal ruhen zu lassen. Eingelullt vom aromenstarken Dampf, der aus dem Ofen an ihrer Seite aufstieg.

Eine größtmögliche Einkehr, nur einige Steinwürfe entfernt vom Tumult, der sich am Grenzübergang an der Bornholmer Straße abspielte, aber auch an anderen Schnittstellen entlang des Eisernen Vorhangs zwischen Ost- und West-Berlin. DDR-Bürger strömten dort im Massen in die Kieze auf der anderen Seite der Mauer. Es war der Anfang vom Ende des sozialistischen Staats.

Zuvor hatte Merkel im Fernsehen die Pressekonferenz Günter Schabowskis verfolgt, der die Grenzöffnung erließ. Danach mit ihrer Mutter telefoniert: „Mama, wenn die Mauer fällt, dann gehen wir in West-Berlin im Kempinski Austern essen.“

Und dann entschied sie: erst einmal Wellness statt Zeitgeschichte.
Die junge Wissenschaftlerin, sie bequemte sich also von ihrer Wohnung an der Schönhauser Allee zur besagten Badeanstalt in Prenzlauer Berg, gesäumt vom Ernst-Thälmann-Park, einer Anlage mit 25-Meter-Bahn, Solarium und anderem Schnickschnack, um janz entspannt zu saunieren.
Was sind das für Orte, die so anziehend sind, dass man dort sogar welthistorische Ereignisse verschwitzt?

Das Vorbild des „Volksbads“

Mehr als 60 Einrichtungen nennen die Berliner Bäderbetriebe heute ihr Eigen, darunter zehn denkmalgeschützte; jährlich schwimmen und relaxen dort sechs Millionen Gäste, in Becken, Whirlpools und Ruhebereichen. Faulenzer und Leistungssportler, Studenten und Rentner, Voyeure und planschende Pärchen – kurz: ein zeitloses Panoptikum der Freizeitgesellschaft.

Die Bäder sind Common Goods, wo sich die Berliner so nahe kommen wie sonst selten im Großstadtdschungel. Das nasse Element verbindet so viele Menschen, dass der neue Chef der Bäderbetriebe, Johannes Kleinsorg, die Besitztümer sogar als „Volksbäder“ (siehe Interview Seite 20) bezeichnet. Badekultur zwischen Spandau, Köpenick und Lankwitz: womöglich das einzige Terrain, in dessen Zusammenhang der sonst kontaminierte Begriff „Volk“ fallen kann, ohne neurechten Fantasien das Wort zu reden.

In den Fassaden und Interieurs spiegeln sich außerdem die ästhetischen Ideale vergangener Epochen. Ein typischer Bau der Neo-Renaissance ist das Bad an der Oderberger Straße, 1902 eröffnet, das heute in einer restaurierten Version zum Hotel Oderberger gehört.

Der Bombast des Wilhelminischen Zeitalters wird verkörpert von einem neoklassizistischen Palast wie dem Stadtbad Neukölln, das seinerzeit auf Postkarten als „größte und modernste Volksbadeanstalt der Welt“ angepriesen wurde. Oder der kühle Charme der Weimarer Republik, den die Architektur des Stadtbads Mitte ausmacht, gestiftet vom jüdischen Mäzen James Simon – ein Vorzeige-Objekt der Neuen Sachlichkeit. Dazu die Zweckmäßigkeit der öffentlichen Infrastruktur in der Nachkriegszeit. Typisch dafür sind die Kombibäder in der Gropiusstadt und oder an der Weddinger Seestraße, beide sozial­demokratische Konsensbauten im Westen der Stadt, oder Bauten wie die Schwimmhalle Holzmarktstraße im Osten, ganz im Sinne des planwirtschaftlichen Solls nach Serienbauweise errichtet.

Die Schwimmhalle in Prenzlauer Berg, wo die junge Merkel nach ihrer Forschungsarbeit regenerierte, ist ein Erbe des späten DDR-Chics. Das Bad steht heute noch; mittlerweile steigen dort auch hinzugezogene Wessis ins Wasser.

Das kathedralenartige Bad an der Oderberger Straße, kurz vor dem Ersten Weltkrieg eröffnet, gehört heute zu einem Hotel. Foto: Martin Nicholas Kunz

So entfalten die Bäder auch in der Gegenwart einen Symbolcharakter: Sie zeigen den gesellschaftlichen Wandel in der wiedervereinten Stadt. Mittlerweile sind sie auch Schauplätze soziokultureller Updates – was sich in den jüngsten Rufen nach eigenen Umkleiden für Transpersonen äußert.

Wer wissen will, wie einige Urväter der Berliner Bäder die Menschen über ihre Blasen hinweg verbinden wollten, muss sich auf eine Zeitreise in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg begeben. In dieser Zeit konzipierten der Baustadtrat Reinhold Kiehl und der Architekt Heinrich Best im damaligen Rixdorf das Stadtbad Neukölln. Ein Badetempel, der im humorlosen Militärstaat der preußischen Pickelhauben fast obszön wirkte. Lustvoll hatten die Baumeister den pompösen Stil römischer Thermen zitiert. Die beiden Schwimmhallen wurden zu Basilikas, flankiert von Säulen, mit farbprächtigen Mosaiken an den Wänden.

Wozu die Provokation? Das verschrieene Rixdorf, die Arme-Leute-Siedlung am Rand der Metropole, wollte ein Ausrufezeichen setzen. Und zudem einen dicken Batzen Reichsmark in die leeren Kassen spülen. Die Idee war, wohlhabende Schaulustige aus Charlottenburg, Wilmersdorf und anderen bürgerlichen Quartieren an die Kartenschalter zu ködern. Ein Defilee der Bourgeoisie im proletarischen Revier: der zarte Versuch, die Klassengesellschaft zu überbrücken, geleitet von ökonomischen Interessen. 1914 wurde das Opus Magnum eröffnet.

Mehr als ein Jahrhundert später ist das Neuköllner Stadtbad zum Schmelztiegel geworden. Dort begegnet sich heute eine urbane Bevölkerung im Zeichen der Globalisierung, Hipster, Expats und Alteingesessene, ob mit migrantischem Hintergrund oder aus der Molle-Eckkneipe. Matthias Oloew, ein Historiker, der das Kompendium „Schwimmbäder: 200 Jahre Architekturgeschichte des öffentlichen Bads“ geschrieben hat, sagt: „Die Bäder bilden meistens die Kundschaft ab, die in der Umgebung wohnt. Sie sind immer Spiegel der Kiezbevölkerung.“ Oloew, der Vermesser der Swimming Pools, ist übrigens auch Pressesprecher der Berliner Bäderbetriebe.

Eine Institution im Westen bietet jedoch ein Wimmelbild der ganzen Stadtgesellschaft: das restaurierte Stadtbad Schöneberg, benannt nach Hans Rosenthal, dem jüdischen Showmaster („Dalli Dalli“). Ihm war dort während der Nazi-Diktatur der Eintritt verwehrt worden. Wieder so ein Bad mit bedeutsamer Geschichte. Heute ist es der Blockbuster im Bäder-Universum, mit geräumigem Schwimmbecken, Solewanne, Whirlpools, Rutsche. Dort tummelt sich Publikum aus Nachbarschaft und Peripherie, darunter viele Familien.

Zurück ins Neuköllner Bad, dieses Gesellschaftsexperiment in Berlins wildestem Stadtteil, genau genommen in den November des Jahres 2015. In diesem Monat machte die Geschichte einer Transgender-Frau die Runde. Die Schwimmerin, die im Körper eines Mannes lebt, hatte sich im Frauenbereich umkleiden wollen. Darüber empörte sich eine Kita-Erzieherin, die dort mit Kindern zugegen war. Das herbeigerufene Badepersonal solidarisierte sich mit der Erzieherin; es fielen die Worte, dass die Transgender-Frau „eine Störung des öffentlichen Badebetriebs“ sei. So steht es jedenfalls in einem Blog-Eintrag einer Freundin der brüskierten Besucherin.

Die neue Vielfalt

Die Frage, die nach dem schlagzeilenträchtigen Vorfall aufkam: Wie geht eine öffentliche Institution damit um, dass das alte, biologische Konstrukt von Mann und Frau überholt ist – und die neue Vielfalt einige Zeitgenossen verwirrt? Im Prinzenbad, dem Freiluft-Mirakel in Kreuzberg, haben die Bäderbetriebe schon eine Antwort gegeben. Dort finden Angehörige des dritten Geschlechts eine Umkleide, die mit dem Intersexuellen-Zeichen versehen ist. Ein Bild, das bald häufiger zu sehen ist? „Es gibt Pläne, Umkleiden für trans- und intersexuelle Menschen auch in anderen Bädern einzurichten. Wir müssen sehen, welche Wege sich da finden lassen “, sagt Bädersprecher Matthias Oloew.

Sonst geht es in den Bädern, wo sich Freund*innen diverser Schwimmstile die knappen Wasserflächen teilen müssen, meistens erstaunlich reibungslos zu. Friedlicher jedenfalls als im rauen Straßenverkehr hinter den Panorama-Fensterscheiben.

Spreewaldbad in Kreuzberg, Foto: Elke A. Jung-Wolff / BBB

„Man arrangiert sich“, sagt beispielsweise Dirk Franke, einstiger Wikipedia-Administrator, vor allem aber regelmäßiger Badgänger, der sein Wissen in ein Kartenspiel gegossen hat. Genau genommen ein Schwimmbad-Quartett, eine Zahlen- und Datenschau zu 32 Hallenbädern, die Bahnlängen, Wassertiefen und Turmhöhen präsentiert.

Anhand des sportlichen Könnens der Bahnenschwimmer in Berlins Bädern lässt sich allerdings soziale Ungleichheit ablesen. Vor allem die Haltungsnoten von Kindern geben Aufschluss: Wer in einem Altbau in Mitte aufwächst und Violoncello lernt, zeigt womöglich auch im Chlor eine gute Figur. Wer in der High-Deck-Siedlung oder der Badstraße im Wedding wohnt, muss sich mit größerer Wahrscheinlichkeit die Schwimmflügel um die Arme binden. Immerhin: Die Nichtschwimmerquote unter Grundschülern ist zuletzt auf 16,6 Prozent gesunken; vor sechs Jahren betrug sie noch 19,6 Prozent.

Vielleicht auch die Folge eines gelungenen Zugs des „Netzwerks Schwimmunterricht“, den Senat, Bezirke, Bäderbetriebe und andere Einrichtungen gebildet haben. Es hat Ferienschwimmkurse aufs Wasser gelassen, aber auch Projekte wie den „Schwimmbär“, einen fünftägigen Crashkurs für Zweitklässler. Schulen der Leibesertüchtigung, die auch Bildungsbürger goutieren dürften.

230 Millionen Euro Sanierungsstau

Sicher auch der große Schwimmpapst unter ihnen: John von Düffel ist Theater­dramaturg, preisgekrönter Schriftsteller – und mittels Erkundungen wie „Wasser und andere Welten“ sowie „Schwimmen – eine kleine Philosophie“ in die Materie eingetaucht. Ein Denker im Geiste von Mark Spitz, der Kraulen, Schmetterling und Freistil mit der Alphabetisierung vergleicht. „Beim Lesen taucht man in eine Lektüre ein, wie es so schön heißt. Man erschließt sich eine andere Welt. Wenn man ins Wasser geht, verlässt man auch die Sphäre des Gewohnten“, sinnierte er einst.

Die Bäder können allerdings nur Abenteuer-Archipel bleiben, solange sie in Schuss sind. Der Mythos hat nach den 90er und Nullerjahren, den Zeiten der Haushaltsnotstände und roten Zahlen, einige Kratzer abbekommen. Auf 230 Millionen Euro wird die Höhe des Sanierungsstaus in der Bäderlandschaft mittlerweile beziffert.

Die Senatsverwaltung, dank des fiskalischen Flusses im heutigen Berlin liquid, zweigt deshalb etwas Geld ab: Allein in den kommenden drei Jahren sollen 60 Millionen Euro in Renovierungen fließen. Im Stadtbad Tiergarten und im Paracelsus-Bad in Reinickendorf, einem poppigen 80er-Jahre-Bau nahe der gleichnamigen U-Bahnstation, haben im Juni  2019 die Bauarbeiten begonnen. In diesem Jahr soll der Startschuss für die Renovierung des maroden Wellenbads am Kreuzberger Spreewaldplatz fallen.

Und bis 2025 sollen sogar zwei neue Bauten entstehen: Multifunktionsbäder in Mariendorf und Pankow. Beide Projekte schlagen zusammen voraussichtlich noch einmal mit weiteren 70 Millionen Euro zu Buche. In den neuen Badetempeln könnte sich einmal der Status quo der Stadtgesellschaft in den Roaring Twenties des 21. Jahrhunderts spiegeln.


Weitere Informationen Öffnungszeiten und Ausstattung der Berliner Bäder finden sich auf www.berlinerbaeder.de

Literatur: Uta Maria Bräuer, Jost Lehne: „Bäderbau in Berlin“, Lukas Verlag, 255 S., 29,80 Euro

Literatur: Matthias Oloew: „Schwimmbäder: 200 Jahre Architekturgeschichte des öffentliches Bads“, Dietrich Reimer Verlag, 392 S., 79 Euro

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