Berliner Biografie

Der U-Bahn-Dichter aus Kreuzkölln

Gedichte von der Seele: Timo Dege gehört zum Kreuzköllner Inventar. Tagein, tagaus verkauft er seine Kleinstlyrik in der U-Bahn, ingesamt 240 Gedichte. Geschrieben hat er sie an einem einzigen Tag. Jeder kennt ihn. Doch wer ist er?

Foto: Patricia Schichl

„Ein Gedicht zur originellen Alltagsunterhaltung?“ Timo Dege steht vor dem Gemüsestand am Kottbusser Tor. In der Hand hält er einen dicken Stapel Blätter, DIN A6, bedruckt mit seinen Gedichten. Sein Blick sucht den Bürgersteig ab, dann fixiert er eine vorbeieilende Frau, geht ein paar Schritte auf sie zu und sagt seinen Spruch in dem für ihn typischen Singsang auf. Sie geht weiter. Dege spricht eher die Jüngeren als die Älteren an, eher die mit Hornbrille und Jutebeutel als die mit den weißen Airmaxx und Basecap. Doch keiner der Passanten bleibt stehen, nur wenige lassen sich zu einem kurzen Kopfschütteln herab. Es ist 14 Uhr, der Wind lässt die Planen am Gemüsestand schlackern. „Abends sind die Menschen aufgeschlossener“, sagt Dege. „Wenn sie den Stress bei der Arbeit schon hinter sich haben.“ Wir gehen in ein Café. Auf dem Weg dorthin schütteln Hustenanfälle seinen Körper, zweimal bleibt er stehen, spuckt Schleim in Gullys.

Timo Dege ist der bunteste Hund von Kreuzkölln. Der fleischgewordene Engelhardt aus Christian Krachts „Imperium“, nur dass Dege mit Gedichten und einer guten Portion Zen, anstatt mit Kokosnüssen, eine Utopie aufbauen will. Und er ist ein Mann voller Widersprüche: Einerseits wirbt er für Rücksicht, Toleranz und Achtsamkeit, andererseits verurteilt er alle, die mit seiner Lebenseinstellung nichts anfangen können. Kohärent kann man seine Gedanken nicht nennen. Aber vielleicht ist er damit ein Sinnbild dieser Stadt und gleichzeitig eine Bereicherung für sie.

Dege ist groß und dünn. So dünn, dass man selbst in der weiten grauen Jeans erkennen kann, dass seine Beine die Hose nicht mal ansatzweise ausfüllen. Wenn er sitzt, presst er die Oberschenkel aneinander. An seinen Wangen und den Schläfen wölbt sich die Haut nach innen, dazwischen tiefliegende, blaue Augen, die er aufreißt, wenn man ihn anspricht. Seinen blonden Zopf hat er vor einiger Zeit abgeschnitten. Jetzt sind seine Haare raspelkurz, bis auf ein paar stehengebliebene einzelne Haare, die nun wie elektrisiert von seinem Kopf abstehen.

Die Chancen, von Dege irgendwann in der U8, am Kotti oder am Hermannplatz ein Gedicht angeboten zu bekommen, sind hoch. Er ist bis zu zwölf Stunden am Tag unterwegs, spätestens ab 9 Uhr morgens, manchmal ab 6 Uhr, am Wochenende sogar ab 3 Uhr nachts. Seit 21 Jahren. Er verkauft seine Gedichte für mindestens einen Euro. Seiner Meinung nach sind sie aber viel mehr wert.

Geht es nach Dege, ist seine Lyrik nichts weniger als die Eintrittskarte ins Paradies. Er schrieb all seine 240 Gedichte in nur 24 Stunden. Ein Zeitraum, in dem er sich als Empfänger und Übertragungsmedium für die „Wahrheiten des Universums“ verstand. Und Zeilen wie „Ich liege, neben den Versuchen!, überlebenslang hinaus!!!, zwischen den Händen und Beinen!!, meines! Tages!, ohne! Sein!“ schuf. Als wenn er sich etwas von der Seele schreiben musste.

Seit diesen manischen 24 Stunden kopiert und verkauft er seine Gedichte immer wieder. „Ich will die Menschen voll inspirieren, sie ins Paradies schubsen, und alles, was sie dafür tun müssen, ist, die Gedichte laut zu lesen“, sagt er. Was genau das Paradies ist, kann Dege nicht wirklich erklären. Ein Ort vielleicht, an dem Sinneseindrücke übermächtig sind und an dem sich alle Gegensätze und Widersprüche der menschlichen Existenz und des Universums manifestieren, in einer guten Art und Weise. Einer, wo „die Bipolaritäten des Seins wie Feuer und Wasser und Sinnlosigkeit und Sinnhaftigkeit voll durchschlagen“.

Von außen betrachtet wirken Deges Gedichte wie eine Mischung aus philosophischen Einsichten, aufgeschriebenen Sinneseindrücken und Kauderwelsch, der einem das Hirn verknotet. Nach seinen Erklärungen ist man auch nicht schlauer.

Man könnte jetzt sagen, Dege sei einfach nur hängengeblieben. Zu viele Pilze, zu viel LSD, vielleicht noch eine Prädisposition für psychische Erkrankungen. Einmal ‘ne Pappe genommen und zum Welterklärer geworden. Aber das wäre zu einfach, zu rational.

Er sagt, er sei glücklich mit seinem Leben

Denn manchmal entfalten Deges Aussagen eine Wucht, wie man sie dem wirren Männchen gar nicht zugetraut hätte. Dann nämlich, wenn er gestressten Menschen im Feierabendverkehr erzählt, dass ihr Leben an ihnen vorbeizieht. Da steht er dann, immer ein bisschen ungepflegt, immer zu dünn, und predigt Achtsamkeit und ein Leben im Moment. Er, der eigentlich Bittsteller und auf das Geld der Menschen angewiesen ist, dreht die Machtverhältnisse einige Momente lang um. Er lässt sie wissen, dass er glücklich ist mit seinem Leben. Und fragt, ob sie es auch sind.

Wenn sie mit sich reden lassen. Seinen Berechnungen zufolge spricht Dege am Tag 1.500 Menschen an, seit 1998 hat er etwa vier Millionen Menschen „studiert“. Davon hätten sich 95 Prozent nicht auf seine Gedichte eingelassen. Er versteht die Menschen nicht. „Ich kann oft große Verbundenheit mit den Menschen fühlen, aber in dem Moment, wo ihr Mund aufgeht, ist es meistens vorbei“, sagt er.

Andersrum fühlt Dege sich vom Großteil der Menschheit unverstanden, inklusive seinem Vater. Dege studierte bis in die frühen 2000er an der Freien und an der Technischen Universität. Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Pädagogik und Psychologie. Nebenbei jobbte er als Plakatierer. Den Großteil seines Geldes aber bezog er von seinem Vater, 2.000 Euro im Monat. „Als mein Vater meinte, ich müsste mich jetzt mal von einem Psychologen untersuchen lassen, konnte ich ja schlecht nein sagen“, sagt Dege. Der Psychologe war ein Psychiater und stufte Dege wegen Schizophrenie als Gefahr für andere ein. Dege erzählt die Geschichte so: Obwohl er ihn nur an seinen Erleuchtungen teilhaben lassen wollte, fragte der Psychiater, ob er ihm drohen wolle. Wenn er das so auffassen wolle, dann bitte, will Dege geantwortet haben.

„Drei Tage später standen drei Beamte vor meiner Tür und eine Frau in Militärmontur. Ich könne jetzt ruhig mitkommen oder ‘nen Aufstand machen, für den Fall hätten sie eine Zwangsjacke dabei“, sagt Dege. „Ich bin mitgegangen.“ Fünf Jahre blieb Dege in der Psychiatrie, inklusive zwei Aufenthalten auf der Geschlossenen. Seine Betreuerin: war die Frau in Militärklamotten. „Bis auf ihren Armeefimmel war die eigentlich ganz okay. Die hat mir auch erlaubt, meine Gedichte zu verkaufen“, sagt Dege.
Seitdem ist er wieder jeden Tag unterwegs. Und ist sich sicher: Nicht er ist geisteskrank, sondern die 95 Prozent der Menschen, die sich nicht auf seine Einsichten einlassen. Und die Gesellschaft an sich, weil ihre Mitglieder die Ellenbogen ausfahren und zu wenig aufeinander achtgeben. So sieht Timo Dege die Welt.

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