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Moderne Zeiten

Die Goldenen Zwanziger – Abgesang auf ein wildes Jahrzehnt

In den 1920er-Jahren brannte in Berlin die Luft. Anita Berber tanzte laszive Tänze, am Ku’damm befand sich der längste Tresen der Stadt und vor dem KaDeWe standen die Koksdealer. Warum uns die Dekade auch 100 Jahre später noch so fasziniert

Gäste der Boheme Sauvage – 20er Jahre-Party, Foto: imago images / David Heerde

Ein paar Schritte hineinlaufen in die Flucht zwischen den Gebäuden. In den Hof vordringen, bis es nicht mehr weitergeht. Dann vielleicht einmal den Komplex umschreiten. Die Wohnblöcke an der Cicerostraße begutachten und jenen seit 2007 dem Verfall preisgegebenen Tennisplatz, auf dem einst Vladimir Nabokov und Erich Kästner die Schläger schwangen. Es gibt keinen besseren Ort, um diese Geschichte beginnen zu lassen, als den Lehniner Platz.

Wer sich einen Überblick über die immerhin 40.000 Quadratmeter des WOGA-Komplexes geschaffen hat, die Backsteinverkleidungen an der Stahlbeton-Fassade ebenso bewundert hat wie die abgerundeten Ecken, die breiten Fensterfronten und die paradiesische Ruhe im Innenhof der Wohnanlage, der ist schon mittendrin im Thema. Der Bau, der da am Ku’damm steht, ist zweierlei: Einmal handelt es sich bei dem vom Architekten Erich Mendelsohn entworfenen Bauwerk um das wohl bedeutendste Großensemble der 20er-Jahre in der Berliner City. Vor allem aber schlug hier Ende der 20er-Jahre eines der Herzen der Berliner Freizeitindustrie. Im Kino Universum, dem Premierenkino der UFA, fanden 1.763 Besucher Platz. Etwa halb so groß war die neue Spielstätte vom „Kabarett der Komiker“, Berlins erstem „Rauchtheater“, dessen Luft fünf Mal pro Stunde ausgetauscht werden konnte. Eins drüber schließlich thronte das „Café Leon“, dessen Geschichte aber eher eine der 30er-Jahre ist, in denen es dem Jüdischen Kulturbund als Hauptspielstätte diente.

Aber es ist doch so: Die Geschichte schert sich nicht um Jahreszahlen, erst recht nicht um Dekaden. Wer von den 20er-Jahren spricht, hat, vor allem, wenn es um Berlin geht, etwas Konkretes vor seinen Augen. Vielleicht hat er Erich Kästners „Fabian“ gelesen oder den Kriminalkommissar Gereon Rath begleitet, der in den Erfolgsromanen Volker Kutschers ermittelt. Vielleicht hat er auch die erfolgreichen Verfilmungen dieser Bücher gesehen, die unter dem Serientitel „Babylon Berlin“ einen Schritt weg von der Kriminalistik ins Lasterhafte taten.

Das „Moka Efti“ in Tiergarten: ein Amüsierpalast aus den 20ern, der in „Babylon Berlin“ als großer Kontakthoft der Society präsentiert wird. Foto: picture-alliance / akg-images

Die gängigste Definition der „Goldenen Zwanziger“ nimmt die Einführung der Rentenmark im November 1923 als Start- und die Weltwirtschaftskrise 1929 als Endpunkt. Für Berlin ist das knapp gefasst; an der Spree wurde schon zu den Hochzeiten der Inflation gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Und: Den widrigen Umständen der Weltwirtschaft trotzte man bis in die 30er-Jahre hinein. Nachzulesen ist das in „Ein Führer durch das lasterhafte Berlin“, veröffentlicht 1931 von Konrad Haemmerling unter dem Pseudonym Curt Moreck (aktuell wieder aufgelegt vom Bebra-Verlag). Er bemüht in seinem Band zahlreiche Superlative: „Niemals hätte Theseus sich ohne Ariadnes Faden in das Labyrinth gewagt. Und was war das Labyrinth gegen das nächtliche Berlin, gegen die in ihrem Licht und in ihrem Dunkel gleicherweise verwirrende Metropole des Vergnügens?!“

Über Nacht zur Metropole

Zur Metropole wird Berlin tatsächlich am Anfang der Dekade, genauer: im Oktober 1920. Ursächlich für diesen Wachstumsschub ist eine Verwaltungsreform, die acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke zur 883,5 Quadratkilometer großen und 3,8 Millionen Einwohner starken Einheit verschmilzt – die flächenmäßig größte Stadt Europas und die drittgrößte der Welt. Die Weimarer Republik ist noch kein Jahr alt und hat ein neues Epizentrum. Eines, das keck ist, nicht ohne Einbildung auskommt: „der Parvenu der Großstädte und die Großstadt der Parvenus“, wie Walther Rathenau, später Außenminister, Anfang des Jahrhunderts befand. Das noch im Wachstum begriffen ist; überall wird gebaut. Und da, wo nicht gebaut wird, kommt es zu Metamorphosen.

Aus demTauentzien und dem Kurfürstendamm, jener zu Kaiserzeiten angelegten Prachtmeile zwischen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und den gediegenen Villen im Grunewald, wird schon ab den 1910er-Jahren der schillerndste Straßenzug der Stadt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kennt der Zug in den Westen kein Halten mehr. Ganz im Gegensatz zum kaiserlichen Unter den Linden schleppt der Ku’damm keine Hypothek der Vergangenheit mit sich herum. Einkehren lässt es sich in jedem Straßenzug, sodass in Reiseführern bisweilen vom „längsten Café“ der Welt die Rede ist. Dabei wird erstmals auch dem Winter ein Schnippchen geschlagen: Bilder vom Café Reimann aus dem Jahr 1925 zeigen Heizstrahler. Die werden mit Kohle betrieben, sehen aber sonst ziemlich genau aus wie die Modelle der Gegenwart. Die längste Bar der Stadt befindet sich ohnehin am Ku’damm: Das „Kakadu“ an der Ecke Augsburger Straße nimmt zu seinen Hochzeiten fünf ehemalige Ladengeschäfte ein.

Es ist einer von unzähligen Amüsierbetrieben, die sich vor allem in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre ansiedeln: „Es gibt Tanzflächen von einem Quadratmeter bis zu einem Quadratkilometer, und was sich darum herum aufbaut, das stuft sich von der Kaschemme bis zum Palast. Ebenso verschieden ist die Gesellschaft“, schreibt Curt Moreck in eingangs erwähntem Buch. Die Literaten – arrivierte ebenso wie welche, die sich lediglich dafür hielten –, verbummelten ihre Tage im Romanischen Café an der nahen Gedächtniskirche. Und im Eden-Hotel treffen sich nicht nur Heinrich Mann, Gustaf Gründgens und Marlene Dietrich. Hier kann man im Dachgarten unter Palmen Minigolf spielen oder tanzen. Wenn man Glück hat, mit Billy Wilder, der dort als Eintänzer arbeitet. Und wer ganz zum Ende des Boulevards fährt, landet an dem Ort, den Joseph Roth als die „Pointe des Kurfürstendamms“ bezeichnet: im Lunapark, dem größten Vergnügungspark Europas.

Mit dem Reisebus in die Vergangenheit

Zurück in die Gegenwart. Ein dunkelgrauer Reisebus schnauft im Schritttempo vorbei an ebenjener Stelle, an der einmal das Eden-Hotel stand. Er ist seit etwa eineinhalb Stunden unterwegs, die Route: vom Admiralspalast einmal quer durch das frühere Scheunenviertel, anschließend am Ostbahnhof vorbei und über den Anhalter Bahnhof Richtung Westen. Durch das sogenannte Bermuda-Dreieck im heutigen Schöneberg rein in die City West und über den Potsdamer Platz zurück zum Ausgangsort. Es ist eine kleine Schar, die sich an jenem knacksonnigen Wintertag eingefunden hat. Viele Touristen, aber auch ein paar Einheimische. Der Bus gehört zum Anbieter „Berlin Erlebnisse“, die Tour nennt sich „Die wilde 20er-Jahre Berlin-Erlebnistour“. Es ist eine von mehreren Rundfahrten, die zu diesem Thema angeboten werden – auch zu„Babylon Berlin“ gibt es welche. Man bleibt sitzen, und das ist schon in Ordnung so, denn allzu viel gibt es nicht mehr zu entdecken.

Dort, wo das Eden-Hotel stand, befindet sich nun der Olof-Palme-Platz. Das Lunapark-Gelände wurde schon zu Nazi-Zeiten geschliffen, heute rauscht dort die Berliner Stadtautobahn entlang, der Abschnitt gehört zu den meistbefahrenen Deutschlands. Die Fundamente des Romanischen Cafés sind unter dem Europa-Center begraben. Auch die meisten anderen Schauplätze der Bus-Rundfahrt sind nicht mehr vorhanden. Weil sie im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Aber auch: Weil die Stadtplanung der 50er- und 60er-Jahre ihnen den Garaus machte. Da, so erzählt es der Reiseführer mit schmalem Lächeln, hätten sich die Verantwortlichen im Ost- und Westteil der Stadt übrigens wenig genommen.

So gibt er laminierte Bildtafeln herum. Etwa vom„Haus Vaterland“ am Potsdamer Platz. Ein Vergnügungstempel, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstand und 1928 mit viel Aufwand zu einer Art gastronomisches Disneyland umgebaut wurde. Zwölf Restaurants empfingen die Besucherschar, darunter ein türkisches Café, ein Bierhaus, das Wiener Café Grinzinger, wo man zum Heurigen einkehren konnte, ein „Blockhaus in der Prärie“ mit Wild-West-Bar und eine Rheinterrasse, die ein eigenes Wetter hatte: „Im Haus Vaterland ist man gründlich. Hier gewittert’s stündlich“, war der Slogan: „Strahlender Sonnenschein vergoldet die Landschaft, doch plötzlich verfinstert sich der Himmel. Ein Gewitter zieht auf. Donner rollen grollend in der Ferne, Blitze zucken, Regen prasselt hernieder, Wind zaust an dem Zeltdach.“ Wobei all diese Zerstreuungen wohl eher für Touristen gedacht waren. „Die Berliner gehen da nicht hin“, schreibt Curt Moreck.

Aber wo gingen sie denn hin, die Einheimischen? Mit großer Wahrscheinlichkeit ins „Moka Efti“. Das Café mit allerhand nützlichen Erweiterungen, dessen zweite Etage mit einer Rolltreppe erschlossen wurde, erstreckte sich über 2.800 Quadratmeter, es gab einen Schreibservice ebenso wie einen eigenen Schachsaal, getanzt wurde auch. 25.000 Tassen Kaffee, so heißt es, wurden ausgeschenkt – pro Tag.

In „Babylon Berlin“ kommt das „Moka Efti“ prominent vor, allerdings frei interpretiert: Als Drehort wählten die Macher der Serie einen völlig anderen Ort: Das Kino „Delphi“ wurde 1929 in Weißensee erbaut. Der Stadtteil war ein Hotspot der Berliner Film-Industrie, schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden in diesem „Klein-Hollywood“ die ersten Filme gedreht, alleine rund um den Antonplatz gab es sieben Kinos. Auch inhaltlich ist ein Unterschied festzustellen: Die sündige Seite, die die Serie dem Moka Efti andichtet, gab es so weder in den 20er- noch 30er-Jahren.

Kakadu-Bar, Joachimsthaler Straße 10, Ecke Kurfürstendamm, Berlin-Charlottenburg. Foto: Willem van dePoll / Nationaal Archief / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0

Aber das Laster war im Berlin der 20er-Jahre eingepreist. Mal in der harmlosen Weise der knapp bekleideten Revue-Girls, die schon Erich Kästner beschrieb: „Wir tanzen Tag für Tag im Takt, das ewig gleiche Beinerlei. Und singen laut und abgehackt, und sehr viel Englisch ist dabei.“ Oder in Form von der weltberühmten Josephine Baker, die ab 1926 barbusig über die Berliner Bühnen wirbelte und deren Popo von der Kulturzeitschrift „Der Querschnitt“ als „schokoladener Grieß-Flamerie an Beweglichkeit“ bezeichnet wird.

Noch einmal deutlich verruchter war Anita Berber: Sie ist der Star der Dekade, spielt in zahlreichen Filmen mit, tritt in den berühmten Varietés der Stadt auf, im Apollo Theater ebenso wie im Wintergarten. Sie trägt häufig Smoking, bisweilen auch gar nichts. 1925 lässt sie sich von Otto Dix malen. Das Bild ist grellrot, doch ihr Gesicht fahl, was nicht nur an der Mode der Zeit liegt, sondern auch am Lebenswandel: Sie ist Alkohol- und drogenabhängig, kokettiert damit. Sie benennt sogar die Figuren ihres Programms „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ nach den Rauschmitteln und erzählte in Interviews freimütig von ihrem Konsum. 1928 stirbt sie im Alter von 29 Jahren an Tuberkulose.

Carl Zuckmayer als Dealer

Kokain ist in den 20er-Jahren in der Hauptstadt eine beliebte Droge, schlichtweg, weil noch reichlich Bestände aus dem Ersten Weltkrieg vorhanden sind. Zunächst sind vor allem ehemalige Kriegsverletzte abhängig, doch rasch entdecken die Nachtschwärmer die Vorzüge des Marschierpulvers. Der Konsum steht nicht unter Strafe, doch der Handel ist verboten. Er wird aber bis Ende der 20er-Jahre relativ offen durchgeführt und dient oft jenen als Nebenverdienst, die ohnehin zwischen Kneipe und Nachtclub unterwegs sind. Einer der Dealer, meist irgendwo am Tauentzien stationiert, ist Carl Zuckmayer, aus einer „rabiaten Verzweiflung heraus“, wie er später schreibt. Vieles wurde in den hunderten Rotlichtlokalen konsumiert. Vielleicht im schnieken „Himmel und Hölle“, wo 50 Tänzerinnen in Programmen wie „25 Aktbilder aus dem Leben des Marquis de Sade“ auftraten. Nackt, versteht sich. Vielleicht auch im „Eldorado“ oder im „Toppkeller“, den ersten Adressen des schwul-lesbischen Berlins. Denn auch das ist neu in den 20er-Jahren: Heteronormativität weicht zumindest im Nachtleben auf. Frauen schlafen mit Frauen, Männer mit Männern. Und oft genug, so steht es bei Curt Moreck, ist der vermeintliche Mann am Ende eine Frau oder umgekehrt.

Man ist geneigt, bei all diesen Erzählungen das Vergnügen im Berlin der 20er-Jahre als eine schillernd-gefährliche Angelegenheit zu sehen. Als eine, an der nur jene teilnehmen konnten, die Geld hatten. Ganz so war das nicht. Die 20er-Jahre waren die erste Dekade, in der das Ausgehen für eine breite Gesellschaftsschicht erschwinglich wurde. Manchmal mischten sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen – etwa in Amüsierbetrieben wie dem Luna Park oder den Kaffeehäusern der Stadt.

Zum Teil wurden auch eigene Orte geschaffen. Neben den kostspieligen Etablissements in der City West „gab es auch in den Arbeitervierteln des Nordens und Ostens ein vielfältiges Vergnügungsangebot, jedoch in gleichsam einfacherer Ausführung“, heißt es im empfehlenswerten Buch „Weltstadtvergnügen 1890-1930“. Der größte Proletarier-Tempel der damaligen Zeit ist das „Plaza“, eingerichtet im ehemaligen Gebäude des Küstriner Bahnhofs in Friedrichshain. Oder die Restaurant-Kette Aschinger: Gegründet von den Württemberger Exilanten August und Carl Aschinger, betrieb sie in den 20er-Jahren mehr als 50 Restaurants und Kneipen. Das Essen war günstig, Schrippen sogar umsonst, 1,1 Millionen davon wurden pro Woche gebacken. Das Ambiente war keineswegs ärmlich – eine Heimstätte für die neue Schicht der Angestellten. Ein wenig Aschinger-Flair hat am Rosenthaler Platz überlebt: Das St. Oberholz, heute Treffpunkt der digitalen Boheme, war einst eine Filiale der Kette, die große Treppe, die sich elegant in den oberen Gastraum schwingt, stammt aus der damaligen Zeit.

Ohnehin findet, wer ein wenig sucht, bisweilen an ungewöhnlichen Orten oder den Rändern der Stadt. Die Mulackritze, eine Milieu-Kneipe aus den 20ern, steht heute im Gründerzeitmuseum im Gutshaus Mahlsdorf. Der legendäre „Wintergarten“ ist an die Potsdamer Straße umgezogen und bemüht sich, wieder den alten Flair zu verbreiten.

Das Vergnügungsetablissement „Eldorado“ an der Ecke Motz- und Kalckreuthstrafle. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1983-0121-500 / CC-BY-SA 3.0

Und zumindest von außen lassen sich nicht nur die mittlerweile zum Weltkulturerbe erklärten Siedlungen der Moderne, sondern auch einige der Villen der Reichen und Schönen betrachten: das Haus Paret in Dahlem etwa; gebaut von Herbert Ruhl für den Kunstliebhaber Dr. Hans Paret und dessen umfangreiche Cezanne-Sammlung. Fritz Langs Villa, die er 1929 in der Versuchssiedlung an der Schorlemerallee bezog. Oder, vielleicht am sehenswertesten, die ersten Arbeiten eines Mannes, der in den Folgedekaden zu einem der wichtigsten Architekten Amerikas werden sollte: Richard Neutra, seinerzeit im Büro Erich Mendelsohn tätig, erhielt von dem Investor Adolf Sommerfeld 1923 den Auftrag, zehn Häuser an der Onkel-Tom-Straße in Zehlendorf zu errichten. Vier davon wurden gebaut, noch heute, bald 100 Jahre nach ihrer Entstehung, wirken sie hochmodern. Und da kennt man das Innenleben noch nicht: Neutra hatte in zwei der vier Häuser Drehbühnen zwischen Küche und Wohnzimmer einrichten lassen.

Wer 100 Jahre später durch ein beliebiges Neubaugebiet in den Berliner Villenvierteln schreitet, wird feststellen: Weiter ist man in der Architektur nicht gekommen. Auch das Nachtleben unserer Gegenwart erinnert bei flüchtigem Blick an die damalige Zeit. Gibt es nicht auch heute Clubs, in denen sowohl tänzerische als auch sexuelle Ausschweifungen in die Abendplanung eingepreist sind? Sind also Berghain und KitKat Club im Prinzip die Fortsetzung von Ideen jener Zeit? Ist das Kokstaxi der neue Carl Zuckmayer und Anita Berber so eine Art Amy Winehouse der Goldenen Zwanziger? Und muss man bei der Neigung der Berliner Gastronomie zur Verkettung – fünf Filialen betreibt die Hühnerbraterei Risa Chicken, die Edelkaffee-Röster The Barn bringen es auf sieben Zweigstellen – nicht an das Aschinger-Prinzip denken?

„Immerfort werden, niemals sein“ – der Kunstkritiker Karl Scheffler münzte diese Parole 1910 auf Berlin. Für die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts besitzt sie alle Gültigkeit. Und für die neuen 20er-Jahre? Vermutlich auch. Der Vergleich, der gerne gezogen wird, die Behauptung, es beginne ein neuer „Tanz auf dem Vulkan“, mag trotzdem nicht so recht aufgehen. Die 1920er-Jahre waren eine fragile Zeitspanne, die unter Dauerstrom stand und sich in kurzen Abständen neu kalibrierte. Die Zahl der Armen und der Arbeitslosen war hoch, politische Kämpfe wurden auf der Straße ausgetragen. 20 Regierungen hatte die Weimarer Republik in ihren 14 Jahren, bevor am 30. Januar 1933 das Kabinett Hitler damit begann, seine Diktatur zu errichten.

Im Vergleich dazu haben wir’s heute ziemlich gut. Und können uns über kleinere Dinge aufregen, was uns zurück an den Anfang dieser Geschichte bringt, zurück zum WOGA-Komplex: Genau auf den Tennisplätzen möchte ein Investor 70 Wohnungen bauen. Da regte sich Protest, aktuell steht die Sache vor Gericht.

Wie es weitergeht? Unklar. Aber vielleicht schlägt das Herz der Goldenen Zwanziger ja auch 100 Jahre später noch stark genug, um so einen Eingriff zu verhindern.

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