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Gastkommentar

Die „Hygiene-Demos“, die Volksbühne und Herr C. – ein Gastkommentar von Alexander Karschnia

Seit Ende März gibt es jeden Samstag die sogenannten „Hygiene-Demos“ vor der Volksbühne gegen die Corona-Kontakteinschränkungen von Bund und Ländern. Aus der ursprünglich als links geltenden Aktivisten-Idee wird mehr und mehr ein wöchentliches Treffen aus dem rechten und verschwörungstheoretischen Spektrum.

Und dann machte auch noch ein Interview des ehemaligen Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf die Runde, in dem er zum „republikanischen Widerstand“ aufrief. Wir baten den Berliner Theatermacher, Texter und Theoretiker Alexander Karschnia um einen Gastkommentar. Sein Credo: „Let them drink Desinfektionsmittel!“

Karschnia hat 2003 das Performance-Kollektiv andcompany&Co. mitbegründet. Zu seinen „Jugendsünden“ zählt er, nach der Bundestagswahl 1998 von Christoph Schlingensief den Bundesvorsitz der Partei CHANCE2000 übernommen sie in den Untergrund geführt zu haben, aus dem sie bis heute nicht wieder aufgetaucht ist.

Hygienedemo vor der Volksbühne am 25. April. Foto: Imago/Emmanuele Contini

Als C. eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt: einen Troll, bzw. einen Trump.

Es hatte – wie bei so vielen angry old men vor ihm – mit einer leichten Verwunderung begonnen: Je stärker sein Widerwille gegen die Kanzlerin, desto sympathischer wurde ihm das tobende Kind im White House.

Er erkannte immer mehr Parallelen – wusste er doch als Regisseur genau wie der Ex-Reality-TV-Star über die Macht der Lüge, die Kraft haltloser Behauptungen. Und hatte er nicht – wie jener – ein Haus geleitet, das man besonders gut im Griff hatte, wenn man den mad man gab?

Herr C. hielt Trump einst für einen Gruselclown

Vor vier Jahren hatte die BVG noch seine Einschätzung der US-Wahlen über das „Berliner Fenster“ in der U-Bahn-gesendet, dass er Trump für einen Gruselclown hielt und Hillary Clinton für eine Agentin der Wall-Street. Und?

Er hatte recht behalten: Es war die Zeit der Gruselclowns. Eine neofaschistische Ära. Was war das Problem an der „Theatralisierung der Politik“, die das Ost-Orakel H. M. einst beklagt hatte? Das einzige Problem war die Grottigkeit der Darsteller.

Theatermacher Alexander Karschnia
Gastautor Alexander Karschnia. Foto: privat

Aber mit diesem Typ, der seit vier Jahren auf der Weltbühne performte, hätte man auch in der V-Bühne arbeiten können. Völlig klar – Trump hatte „es“. Doch Trump war nur ein Körper. Was ihm fehlte war – ein Kopf. Der Kopf war C. geblieben, während der restliche Körper von einem Panzer überzogen worden war.

Er hörte Rufe auf der Straße und erschrak: „Hygiene-Demos“? Kamen ihn die Kammerjäger holen? Fäuste hämmerten an seiner Tür. Jemand rief besorgt seinen Namen. Er schüttelte sich. Nachdem die jungen Leute dem „alten weißen Mann“ den Tod an den Hals gewünscht hatten, wollten sie nun nichts dringlicher, als genau jenen alten Mann zu retten.

Nein, Herr C. wollte nicht gerettet werden. Er wollte nie gerettet werden!

Nein, sagte er sich und richtete sich auf (so gut das mit den neuen Körpergliedern ging): Er wollte nicht gerettet werden. Er wollte noch nie gerettet werden! Er hatte auch die V-Bühne nicht retten wollen. Ohne Tod keine Tragödie, ganz klar: DER TOD IST DIE MASKE DER REVOLUTION, hatte H.M. immer gesagt (und umgekehrt).

Er starrte sein Stalin-Porträt an und knurrte: „Wie bekämpft man einen unbekannten Virus? Indem man ihm die gesamte Bevölkerung aussetzt!“ Er setzte sich seinen Hut mit den drei Ecken auf und brüllte die Wand an: „Hunde! Wollt ihr ewig leben!“ Dann ließ er sich auf den Boden gleiten, seine neuen Beinchen konnten den schweren Kopf nicht länger oben halten.

Vor dem Fenster hörte er Menschenchöre. Rund um den Rosa-Luxemburg-Platz hatte sich eine bunte Menge versammelt, sie trugen Bilder von ihm wie Ikonen vor sich her und skandierten seinen Namen.

Es war der 1. Mai, kurz vor 16 Uhr – er war als Hauptredner angekündigt worden. In seiner Verzweiflung hatte er sogar einen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben und gefleht: „Machen Sie die Theater wieder auf – oder zumindest die Keller in Neukölln – sonst gibt es ein Unglück!“

Das nackte Grauen vor den Clowns

Er hatte keine Angst vor dem Virus – in der DDR hatte so starke Streptokokken-Impfungen gegeben, die wirkten wie eine Infusion mit Desinfektionsmittel – aber das nackte Grauen empfand er vor diesen Clowns. Einige Dramaturgen und Schauspieler*innen hatten sich die Gesichter weiß geschminkt, aber die meisten hatten sich lediglich ein Grinsen ins Gesicht gemalt.

Und je mehr sie schimpften und klagten, desto breiter wurde dieses Grinsen – bald schien es sich selbstständig zu machen wie bei der Grinsekatze.

Erst hatten sie sich geweigert, ihre Hände zu waschen, dann hatten sie aufgehört zu duschen und kurz darauf panisch flüchtenden Passanten free hugs angedroht. Manche waren den Passanten nachgerannt und hatten ihnen den Mundschutz vorm Gesicht gerissen: „Runter mit dem Schleier, ihr Merkel-Gläubigen“.

Sie nannte sich „demokratischer Widerstand“, aber sie sprachen die Worte „Grundrechte“ und „Grundgesetz“ mit ihren grell geschminkten Mündern auf eine Weise aus, die einem Schauer den Rücken runter jagten.

Was war das? Vor allem: Wann war das? Konnte es sein, dass es schon 22 Jahre her war, dass ein Theatermacher aus Oberhausen den letzten postheroischen Versuch unternommen hatte, das Tragödienbewusstsein der Massen zu heben?

Schlingensiefs „Scheitern als Chance“ blieb heillos mitssverstanden

CHANCE 2000 hatte zu einem Bad im Wolfgangsee aufgerufen, damit Helmut Kohl in seiner Sommerresidenz auch mal das Wasser bis zum Hals stünde. Damals hatten die Massen ihre Autonomie bewiesen, indem sie zu Hause blieben und lieber ein Bad in ihrer Badewanne nahmen. Und jetzt? Jetzt wollten sie den Aufstand nachholen?

Das war die Farce, von der Marx gesprochen hatte. Der Slogan „Scheitern als Chance!“ blieb heillos missverstanden: Alles ist mein Eigentum. Auch meine Angst. Mein Schmerz. Und mein Scheitern. Niemand hat einen Anspruch darauf. Sonst bleibt das Scheitern ohne Chance.

Und so kam es: Keine Gefährten aus den Tagen der Theaterbesetzung wollten auch nur diskutieren, einst Verbündete mobilisierten Gegenaktionen, goldene Fahnen wehten von den Balkons der umliegenden Gebäude und in großen Lettern stand auf der Wand des Theaters: WIR SIND NICHT EURE KULISSE!

Die Clowns wussten nicht weiter: Sie wurden als „nützliche Idioten“ der Faschisten beschimpft – das war sehr unfair: „nützlich“ wollten sie nie sein! Das wäre unkünstlerisch. Ihre Clowns-Armee wurde nur als „Meschugge-Brigade“ verlacht.

Die Leugner waren Loser

Erst hatten sie sich am Zorn, den sie erregt hatten, noch berauscht. Doch der Zorn war schnell verflogen, am Ende blieb nur der Spott.

Und die Leugner: Corona-, Klimawandel- und Holocaustleugner. Die Lüge war zwar eine große Macht, doch die Leugnung nur eine Schwäche – bestätigte sie doch noch in der Negation die Wahrheit des Bekämpften. Die Leugner waren Loser – Verlierer ohne jede Tragik. Auch Trump hatte sie enttäuscht.

Am Ende blieb nur noch das Bild des Brasilianers Bolsonaro, der im von den von ihm gelegten Waldbränden verdunkelten Sao Paulo stand und sich mit Nero verglich. Ja, Präsident müsste man sein, dann muss man sich nicht selbst anzünden, dann kann man alles andere abfackeln, seufzten sie. Ein dichter Regen prasselte auf sie hinab, spülte ihnen das Grinsen aus dem Gesicht, während sie leise murmelten: BURN, BERLIN, BURN!

Gastkommentare spiegeln die Meinung des oder der jeweiligen Autoren/in, nicht des tip wider.


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Auch die Volksbühne selbst wehrt sich am heutigen Samstag gegen die Vereinnahmung durch die Demonstrant*innen: „Position mit Abstand
Ein Gespräch mit Shelly Kupferberg, Leon Kahane und Lars Deiucker2.5., 16-19 Uhr im Live-Stream der Volksbühne.

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