Story

Ein traum­verzerrter Spiegel

Fantasy mit Heldinnen und trans* Menschen: In ihrem neuen Roman löst sich die Berliner-Bestsellerautorin Jenny-Mai Nuyen von den Konventionen des Genres

Äußerst sprachgewandt: Jenny-Mai Nuyen Foto: Milena Schlösser

Ihre erste Geschichte schrieb Jenny-Mai Nuyen mit fünf Jahren. Ihr erstes Drehbuch war mit zehn fertig, der erste Roman mit dreizehn. 2007 erschien ihr Romandebüt „Nijura – Das Erbe der Elfenkrone“ und wurde ein Bestseller. Wunderkind, schallte es erwartungsgemäß durch den Blätterwald. 

Nur: Solche Schubladen mag Nuyen, die 1988 als Tochter deutsch-vietnamesischer Eltern in München geboren wurde, überhaupt nicht, egal ob wegen ihres Alters oder ihres Genres. Sie fühlte sich damals zwar nicht unbedingt „von Erwartungen bedrückt “, erzählt sie heute, aber ihr gefiel nicht, ein Etikett zu bekommen  – und das „Sich-beweisen-Müssen“ sei, trotz aller innewohnenden Kraft, „auch ein Hemmnis für die Kreativität“. Doch sie kam damit klar, später probierte sie außerdem andere Sujets als klassische Fantasy aus, schrieb Mystery und Science Fiction.

Mit ihrem neuen, äußerst sprachgewandten Roman „Die Töchter von Ilian“ kehrt sie nach einem Filmstudium in New York und einem Umzug nach Berlin jetzt zur Fantasy zurück. Genau genommen zur High Fantasy in der Tradition von J. R. R. Tolkien, mit Zwergen und Elfen und Schwertern und Magie. Bei Nuyen geht es um Intrigen, Probleme zwischen den Völkern sowie die Suche nach mächtigen Artefakten. 

Ein traditionsbewusster Plot. Doch die Zwerge sind in einem Matriarchat organisiert, und zu den Protagonisten gehören eine zwergische Hexe und eine transsexuelle Elfin. Komplexe Frauenfiguren, Homosexualität und Transgender, so was sucht man bei Tolkien und seinen Nachfolgern zumeist vergebens, obwohl sich die Ansprüche an das Genre natürlich wandeln. 

Nuyen mag es allerdings nicht, wenn sich Fantasy-Literatur als „pseudo-feministisch inszeniert“, mit weiblichen Hauptfiguren also, die „mindestens so stark wie Männer sind“. Sie achtet darauf, dass ihre Charaktere echt wirken. „Das heißt, ich bürste sie weder extra gegen oder sonderlich auf irgendwelche Geschlechterklischees“, sagt die Autorin. 

Abstand zu Tolkien – und Nähe

Dennoch gehören Klischees zum Genre. Nuyen selbst liebt Fantasy, „in der man sich geborgen fühlt“. Bei ihren Werken legt sie Wert darauf, dass man „in einer märchenhaften Welt versinkt und die eigene Erfahrungswelt in einem traumverzerrten Spiegel sieht“. Ihr neuer Roman sei eine Reflexion unserer Zeit innerhalb der klassischen, epischen Fantasy-Atmosphäre. So weit möchte sie von Tolkien weg – und so nah möchte sie bei ihm bleiben, sagt Nuyen. Daher konfrontiert sie unsere Gegenwart, in der Sexismus und Rassismus große Themen sind, mit ihrer archaisch-fantastischen Weltenschöpfung. Ist ein Miteinander ohne Machtstrukturen möglich? Wie sähe eine Gesellschaft aus, die nicht auf Unterdrückung beruht? Diese Fragen trieben Nuyen um. Inspiration fand sie in ihrem Interesse für Archäologie. Denn die Kupferzeit in Europa circa 5.000 vor Christus stelle in Nuyens Augen einen Wendepunkt dar. „Eine Art Vertreibung aus dem Paradies“ hinsichtlich der gesellschaftlichen Strukturen und Hierarchien vor den „so genannten Hochkulturen“. 

Mein jüngeres Ich würde ich damit trösten, dass ich nicht klinisch depressiv geworden bin, sondern nur situationsbedingt durch den Wind“

Zur literarischen Szene Berlins gehört Nuyen übrigens nicht. „Ich habe meine Wohnung die letzten Jahre hauptsächlich verlassen, um philosophische oder theologische Veranstaltungen an den Berliner Unis zu besuchen, und dort habe ich auch die meisten Menschen meines überschaubaren Freundeskreises gefunden.“ 

In ihrem aktuellen Roman kann man dank Artefakten mit der Vergangenheit und der Zukunft interagieren. Was würde die 31-Jährige der Jugendlichen sagen, die zum schriftstellerischen Wunderkind erkoren wurde, und was würde sie über das Morgen wissen wollen? „Mein jüngeres Ich würde ich damit trösten, dass ich nicht klinisch depressiv geworden bin, nur situationsbedingt durch den Wind, und über die Zukunft möchte ich gar nichts wissen – wäre doch langweilig!“

Die Töchter von Ilian von Jenny-Mai Nuyen, Fischer TOR, 652 S., 16,99 €


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