Auch wenn es sich in diesen Tagen vielleicht so anfühlt: Das gastronomische Berlin steht keineswegs still. Weswegen wir an dieser Stelle schon einmal einen Ausblick wagen auf die kulinarische Stadt nach der Krise. Fine Dining von früher scheint aus der Zeit gefallen zu sein, die Zukunft wird respektvoller, grüner, lokaler und natürlich digitaler. Fünf Thesen zu einer neuen Esskultur.
1. Gastro-Trend für Berlin: Hochküche auf Augenhöhe
Keine Sorge, wir werden in Berlin auch weiterhin grandios essen können. Das Fine Dining der alten Schule aber, mit seinen Miniaturhappen, den Statusgerichten und einem Betreuungsschlüssel von mindestens zwei Servicekräften pro Tisch, scheint plötzlich aus der Zeit gefallen. Auch und gerade in der guten, hochpreisigeren Gastronomie sehnen sich die Gäste nach einem Abend auf Augenhöhe. Zumal das auch eine Lehre des Lockdowns sein sollte: Mitarbeiter:innen in der Gastronomie verdienen eine größere Wertschätzung und, ja, auch mehr Geld.
Wie das funktionieren kann, zeigt etwa der junge Gastronom Vadim Otto Ursus in seinem Restaurant Otto nicht nur mit flachen Hierarchien, sondern auch in der Selbstverständlichkeit seiner Karte. Karpfen oder Wildschwein steht da einfach. Und am Tisch wird erklärt, welche Stücke in welcher Zubereitung es am jeweiligen Abend gibt. Das kommuniziert die Selbstverständlichkeit, alles vom Tier zu verarbeiten. Und unterminiert auch die überkommende Haltung, dass nur die Filetstücke für die feine Küche taugen.
2. Gastro-Trend für Berlin: Ein Lob des Lokalen
Die großen Fragen unserer Gegenwart, so der Münsteraner Politologe Norbert Kersting, werden wir nicht global oder lokal, sondern nur nachbarschaftlich lösen. Kersting meint Fragen der Migration oder einer alternden Gesellschaft. Uns hat die Pandemie gezeigt: Auch kulinarisch ist der Kiez, und damit das Nachbarschaftslokal, plötzlich wichtig geworden. Die Menschen entdeckten die Take-away-Lasagne „ihres“ Italieners. Sie standen für eine Zimtschnecke aus diesen tollen Geschäften und einen Kaffee in der Sonne in der Schlange.
Und genauso im Berliner Alltagsgrau. Das Home-Office und der Lockdown haben unseren Blick auf und die Verantwortung für den eigenen Kiez geschärft. Profitiert, so erzählt es etwa Alessandro Leonardi von der Pizzeria Futura im Bänschkiez in Friedrichshain, haben davon vor allem die Läden, die bereits in ihrer Nachbarschaft verankert waren. Und nicht nur bei Tourist:innen beliebt sind. Das wird nach der Pandemie so bleiben: Wir werden weniger losziehen, um etwas Neues zu entdecken, sondern um Vertrautes wiederzufinden.
Denn auch das ist eine Corona-Lehre: die Dinge und das Essen künftig entspannter zu nehmen. Übrigens, nachbarschaftliche Nähe funktioniert längst auch virtuell: Das eigene Netzwerk, die Community, hatte manches Restaurant in der Krise gestützt.
3. Gastro-Trend für Berlin: Das Private wird kulinarisch
Zum Beispiel das Bricole in der Senefelderstraße, Prenzlauer Berg: In wenigen Wochen wird das Team um Gastgeber Fabian Fischer in der Nachbarschaft noch den Wein- und Feinkostladen mit dem schönen Namen Lore Ipsum eröffnen. Oder Jonathan Kartenberg: Der Wirt hinter dem Irma la Douce und dem Eins44 hat im Lockdown den Onlineshop „The Good Taste“ hochgezogen, über den er die Speisekammerprodukte Berliner Restaurants vertreibt. Vorgekochtes, Eingewecktes, handwerklich Produziertes, auch ein ganz analoges Ladenlokal sei geplant. Gutes Essen und gute Zutaten haben wir lange vor allem im Restaurant geschätzt. Auf der sozialen Bühne eben.
Mit dem Lockdown hat sich der Genuss aus Mangel an Alternativen ins Private verlagert. Wir möchten ihn auch dort nicht mehr missen. Ein Trend, den längst auch die Größeren und ganz Großen der Branche erkannt haben. Der Gastronomielieferant Havellandexpress öffnet seine Markthalle Zwanzig bewusst für private Kund:innen. Und sogar Edeka plant in Charlottenburg ein neuartiges Markthallenkonzept.
4. Gastro-Trend für Berlin: Grüner wird’s
Was haben das handgestampfte Demeter- Kartoffelpüree von Möllers Köttbullar am Schlesischen Tor, die urbane Aquaterraponik der StadtFarm in Lichtenberg und das ZeroWaste-Restaurant Frea in der Torstraße gemeinsam? Ihnen allen geht es, jeweils auf ihre Weise, um eine andere Ernährungskultur.
Und auch wenn der Lockdown – Stichwort: Einwegverpackungen – zwischenzeitlich das Gegenteil nahegelegt hat: Vieles spricht dafür, dass viele Restaurants Berlins ökologischer und nachhaltiger aus der Pandemie kommen werden. Etwa, weil die Zeit genutzt wurde, unmittelbarerer Beziehungen zu lokalen Produzenten aufzubauen. Und außerdem: Wir alle haben in den vergangenen Monaten plötzlich sehr oft mit frischen Lebensmitteln (man betrachte nur den Boom der regionalen Bio-Kisten) zuhause gekocht. Und haben nun dementsprechend höhere Erwartungen auch und gerade an einen Restaurantbesuch.
5. Gastro-Trend für Berlin: Digital isst besser
„Das Tempo, in dem die Digitalisierung gerade unsere Ernährung revolutioniert, ist exponentiell“, sagt der Berliner Food-Experte Hendrik Haase. „Wir erleben eine Durchdringung des privaten Raums, Unternehmen gucken in unsere Küche.“ Und, ja, was die Digitalisierung unserer Esskultur angeht, war die Pandemie tatsächlich ein Gamechanger, schien es doch in Deutschland lange etwa undenkbar, Lebensmittel im großen Stil online zu vertreiben. Nein, es wäre keine gute Idee, wenn Alexa künftig auch unseren Kühlschrank füllt. Was wir aber brauchen, sind alternative digitale Konzepte. Aber hier hat die Gastronomie ja im Lockdown mächtig viel dazugelernt. Auch lokal und kollektiv organisierte Alternativen zu Lieferdiensten wie Lieferando oder Wolt scheinen plötzlich denkbar.
Mehr Berliner Esskultur
Unverzichtbar für die neue Esskultur: ein Besuch bei den besten Marktständen in Berlin. Ein See voller Möglichkeiten: Die Fischerei Köllnitz will Handwerk mit Sehnsucht nach erfahrbaren Landschaften verbinden. Ihr mögt keinen Fisch? Dann ab zu Hofläden und Direktverkauf im Umland für Spargel in Berlin. Ein guter Schluck dazu: Der beste Wein zum Frühling – wir haben Empfehlungen aus Berlins Weinhandlungen.