
Das Schiffchen ist Pflicht. Und genauso das rote Halstuch. Schließlich geht es Alessandro Leonardi auch um eine Haltung, nicht nur um die routinierte Handlung, mit der er den Teig aus der Faust zu kleinen Bällen quetscht, dann auf der Granitplatte ausdrückt und – peng, peng, peng, klatsch, klatsch, klatsch – in ebenjene Form bringt, die kurz darauf als Pizza auf dem Teller liegt.
Dieses Klatschen, das Schlagen und Umschlagen des Teigs, ist die Pflicht wie die Kür einer authentisch neapolitanischen Pizza. So und nur so wird die Luft aus dem Teig in dessen Rand transportiert. So entsteht die typische Pizza Neapolitana, kross, ja, fast angebrannt am Rand und wunderbar fluffig im Kern.
Die ultradünne Pizza Romana, wie sie nach der Jahrtausendwende zum Standard des vermeintlich guten italienischen Geschmacks geworden war, mag als Unterlage für dieses und jenes dienen. Die Meeresfrüchte, den Parmaschinken und – so war und ist es ja noch immer Mode – den notorischen Berg Rucola. Pizza Croccante sagt man in Italien dazu. Die Pizza Neapolitana allerdings bietet das kompaktere, vollmundigere Vergnügen.
„Michele“, antwortet Alessandro Leonardi denn auch standesgemäß, wenn man ihn nach seiner liebsten Pizzeria fragt. Ein kleiner Laden in einem der raueren Viertel von Neapel – Plastikstühle, Plastiktische, Plastiktischdecken –, in dem es genau zwei Pizzen gibt: eine Margherita und eine Marinara, die auch noch den Mozzarella weglässt. Tomaten, Öl, Knoblauch und Oregano. Mehr nicht. Und die Menschen stehen in einer Traube vor dem unscheinbaren Laden, bis sie charmant-ruppig an einen der frei werdenden Tische delegiert werden. Oder an die freien Plätze an einem bereits besetzten Tisch. So viel zum Versprechen einer richtig guten Pizza.
Florian Schramm gibt dieses Versprechen. Weshalb er seiner vor knapp einem Jahr im südlichsten Prenzlauer Berg eröffneten Pizzeria vielleicht auch diesen Namen gegeben hat: Standard, was sich in etwa auch mit Maßstab übersetzen ließe. Alessandro Leonardi war schon dabei, als Schramm den Mietvertrag unterschrieben hat. Und als ein paar Wochen später der vier Tonnen schwere neapolitanische Kuppelofen, damals der erste in Berlin, in den Laden gewuchtet wurde. Der Türstock musste ausgebaut und die Statik neu berechnet werden. Jetzt sitzen der neapolitanische Pizzaiolo und der niederösterreichische Gastro-Quereinsteiger in der vermutlich besten Pizzeria der Stadt und sprechen über die Komplexität des Einfachen und die Essenz des guten Geschmacks: „Spaghetti Olio, also nur Pasta, Knoblauch und Öl, das ist das simpelste Gericht und genau deshalb gleichzeitig das schwerste.“ Mit einer Margherita verhält es sich ungefähr so.
Es gibt diese Handvoll Gerichte, die tatsächlich allgemeingültig sind. Die, wenn sie denn funktionieren, alle Aspekte des Gastronomischen bespielen, das gesellschaftliche Happening, das sinnliche Erlebnis, den kulinarischen Erkenntnisgewinn. Vom Burger wurde das zuletzt behauptet. Das Schnitzel war mal so ein mindestens Berliner Ding. An die Pizza aber kommt nichts ran. Schon alleine, weil es wohl die Leibspeise ist, die uns am längsten begleitet. Pizza geht immer, auf der Klassenfahrt, in der Mittagspause, mit den Eltern, mit den Kindern. Vor, nach oder auch im Club.

Nur: Geht mit der Pizza denn noch was? Die lauten und launigen Abende bei Il Casolare am Kreuzberger Landwehrkanal erzählten doch auch davon, dass die Pizza in einer Phase der beiläufigen Selbstverständlichkeit angekommen war. Lass uns uns doch ein andermal über das Essen Gedanken machen, heute essen wir Pizza. Augenfällig jedenfalls, dass die Hegemonialisierung des Street Food in der Berliner Alltags- und Ausgehkultur fast gänzlich ohne die Pizza ausgekommen war. Peruanische Ceviche, japanische Ramen, neuseeländische Pies oder Sandwiches mit Kimchi-Kohl und Schweinebauch. Das war neu. Aber konnte man das Rad auch noch mal neu erfinden?
„Alle Pizzen fast rund“, steht in diesem Sinne auf einer Kreidetafel am Fratelli La Bionda im Kreuzberger Bergmannkiez. Was man auch als einen Verweis auf die neue, alte Handwerklichkeit lesen sollte. Urtomaten vom Fuße des Vesuvs, die mit der Hand zerquetscht werden, weil jede maschinelle Verarbeitung unnötige Wärme erzeugen würde. Und Teige, die 16 oder gar 24 Stunden gehen gelassen werden, damit, wie es Florian Schramm aus dem Standard erzählt, „alles, was sonst der Darm leisten müsste, bereits in diesem Fermentationsprozess passiert“. Weshalb gute Pizzen eben auch meistens besser verdaulich sind. Von wegen schwere Kost.
Ganz rund, das sind eben die Pizzarohlinge aus der Tiefkühltruhe, egal, ob aus dem Gastrogroßhandel oder dem Supermarkt. Und wenn Alessandro Leonardi in der eingangs erwähnten Tracht eines neapolitanischen Pizzaiolos an der Granitarbeitsplatte und dem Kuppelofen steht, hat das genau damit zu tun: 1984 hatte sich in der Hauptstadt der Pizza nämlich die Associazione Verace Pizza Napoletana gegründet. Als Reaktion auf die um sich greifende Tiefkühlware und auf die ersten McDonald’s-Filialen in der Stadt. Ein Manifest wurde verfasst, und heute ist die Herstellung der original neapolitanischen Pizza sogar in einer Industrienorm festgeschrieben, die hintersinnigerweise gerade das Handwerkliche und Handgemachte, eigentlich das genaue Gegenteil jeder Industrienorm, postuliert.
Wenn alles glattgeht, wovon im Übrigen auszugehen ist, wird das Standard in der Templiner Straße, Prenzlauer Berg, in diesem Herbst die erste von der Associazione Verace Pizza Napoletana zertifizierte Pizzeria in Deutschland werden. Typisch neapolitanisch ist auch die Karte: acht Standard-Pizzen plus zwei wechselnde Tageskreationen, kaum eine darunter, die mehr als drei oder vier verschiedene Beläge hat. „Ich habe ein echtes kulturelles Problem mit einem Laden“, wird Alfredo Sironi, der italienische Bäcker in der Kreuzberger Markthalle Neun, ganz in diesem Sinne ein paar Tage später sagen, „der 40 verschiedene Pizzen auf der Karte hat.“
Die Verteidigung der Pizza gegen ihre Fans. Ungefähr darum geht es deshalb auch in der Neuköllner Weichselstraße, wo drei Freunde in diesem Frühjahr das Monella eröffnet haben. Auch eine Kuppelofenpizza, wenngleich man den Purismus und die Authentizität des Standard im Monella um eine spielerische Komponente erweitert hat. Und um den brandenburgischen Obst- und Gemüsegarten. Auch im Monella ist die Karte klein, doch liegen schon mal Wirsingblätter oder Pfirsichspalten und Chilischoten auf den ebenfalls nach neapolitanischer Art gebackenen Pizzen. Der Büffelmozzarella kommt von Bobalis aus Jüterbog, die Zucchiniblüten von den Kollektivgärtnern der Wilden Gärtnerei in Rüdnitz bei Bernau.
Die Idee der saisonalen, regionalen Küche – im Monella ist sie auf die Pizza gekommen. Oder, wie es Matthias Campedelli, einer der Betreiber, sagt: „Es ist ja nicht so, dass wir auf den Wirsing gekommen sind, der Wirsing kam zu uns.“ Er freue sich deshalb schon auf den Winter. Und auf die Pizzakreationen , die Brandenburgs Gärten, Felder und Weiden im Dezember oder Januar möglich machen.
Deshalb noch einmal zu Alfredo Sironi, dem Bäcker, der auch das piemontesische Mehl importiert, aus dem das Fratelli La Bionda seine Pizzen macht. „Wenn es eine Eigenschaft gibt, die für unser Handwerk ganz, ganz wichtig ist, dann ist es Neugier“, sagt der Quereinsteiger vom Comer See. Kulturwissenschaften hat er einmal studiert, und Kulturgüter sind ihm auch das Brot, die Pizza und die Focaccia. Weswegen er sich mit der Bäckerinnung gerade über den Formalismus der deutschen Bäckerausbildung streitet.
Woher er denn seine Bäcker bekomme? „Italien steckt gerade in einer Apathie. Und viele, die etwas machen wollen, mit den Händen, mit den Sinnen, kommen deshalb nach Berlin.“

Mit Händen und Sinnen machen sie dann etwa eine Focaccia Genovese, ein puristisches, simples Produkt. Mehl, Olivenöl, etwas Rosmarin. Alfredo Sironi wird es lieben. Oder auch mal nicht so sehr. Jeden Tag aufs Neue. Wenn sich das Öl leicht kandiert auf der Oberfläche absetzt, wenn die Farbe von Goldbraun zu Zartgelb changiert, sieht er schon von Weitem: Heute ist ein besonders guter Tag für die Focaccia. Besonders gute Zeiten für die Pizza haben wir – gerade jetzt.
Text: Clemens Niedenthal
Fotos: Philipp Külker, Kai von Kotze
Adressen
Fratelli La Bionda
Bergmannstr. 31, Kreuzberg, ?Mo–Fr ab 18 Uhr, Sa+So ab 13 Uhr, ?www.fratellilabionda.de
Monella
Weichselstr. 17, Neukölln, ?tgl. ab 18 Uhr, www.monella.berlin
Sironi – Il Pane di milano
In der Markthalle Neun, Eisenbahnstr. 42-43, Kreuzberg, Mo–Mi, Fr+Sa 8–20 Uhr, ?Do 8–22 Uhr, www.facebook.com/sironi.de
Standard
Templiner Str. 7, Prenzlauer Berg, ?Di–Fr 17–24 Uhr, Sa+So 13–24 Uhr, ?www.standard-berlin.de
Parma di Vinibenedetti
Draußen im Brandenburgischen hält Philippe Benedetti ein gutes Dutzend Sattelschweine. Weshalb auf seinen Pizzen schon mal ein 36 Monate gereifter Prosciutto Crudo (in Demeter-Qualität) liegt. An den einschlägigen kulinarischen Hotspots wäre diese charmant unfertige Enoteca längst überlaufen.
Utrechter Str. 31, Wedding, Di–So ab 12 Uhr, parma.vinibenedetti.com
Stranero
Eigentlich schien die kulinarische Aufbruchstimmung im Wedding schon wieder vorüber zu sein. Nun aber hat der einstige Malocherkiez gerade mit der Pizza sein Hauptgericht gefunden. Neben Parma di Vinibenedetti ist auch das Stranero eine echte Empfehlung. Die günstige unter den guten neuen Pizzerien der Stadt, Pizzen zwischen 6 und 7,50 Euro.
Liebenwalder Str. 9, Wedding, Di–So ab 17 Uhr, www.facebook.com/straneroberlin
Il Casolare
Punkrock-Pizzeria mit Soul-Food-Feeling, vollmundig-ruppig im Geschmack. Das Lokal am Kreuzberger Landwehrkanal ist eine Institution, der man sogar verzeiht, dass auf den standesgemäßen Papierservietten noch immer „X-Berg“ steht.
Grimmstr. 20, Kreuzberg, tgl. ab 12 Uhr
Ristorante Masaniello
Es gibt italienische Restaurants. Und es gibt das italienische Ristorante. Mit falschem Mauerwerk und echtem Italo-Nippes, vollgepackt sind die Teller wie das Lokal. Genau dafür lieben wir das Masaniello. Und für die authentische Küche und die neapolitanischen Pizzen. Seit 1979 bereits. Weniger hip geht nicht. Die Foodies kommen, neben den vielen (italienischen) Stammgästen, trotzdem.
Hasenheide 20, Kreuzberg, tgl. ab 12 Uhr, www.befo.de/masaniello/
Francucci
Alles andere als ein Geheimtipp, aber ein Tipp von Sommelier Michael Neunhäuserer aus der wunderbaren Weinbar Thal gleich ums Eck in der Grolmannstraße. Er holt sich im Francucci immer die Focaccia Melanzane e Bufala. Sollten Sie auch mal machen.
Kurfürstendamm 90, Charlottenburg, tgl. ab 12 Uhr, www.francucci.de
Dal Buongustaio
Sardische Wurst und Rosmarinzweig auf hauchdünn ausgerolltem, im Steinofen kross gebackenen Teig – Dal Buongustaio interpretiert die Pizza also römisch, nicht neapolitanisch. Statt eines Messers wird ein Teigrädchen gereicht, mit dem man sich durch das runde Vergnügen schneidet.
Windscheidstr. 24, Charlottenburg, Mo–Sa ab 18 Uhr
Pizza Nostra
Eigentlich eine Steh- und Gehpizzeria. Spätestens nach dem gelungenen Makeover von Interieur und Speisekarte in diesem Frühjahr mag man aber auch gerne bleiben. Für eine Salsiccia e Crudo beispielsweise, mit Salsiccia, Mascarpone und Parmaschinken.
Lychener Str. 2, Prenzlauer Berg, Mo–Sa 12–24 Uhr, So 13–24 Uhr, www.pizzanostra.de
Zola Pizza
Noch eine Kuppelofenpizzeria, diesmal in einem Industriehof am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer. Die Margherita ist groß, die Öffnungszeiten sind es noch nicht. In Erwartung einer großen Konzession läuft das Zola bisher nur im Mittagsbetrieb. In einigen Wochen wird das anders sein.
Paul-Lincke-Ufer 39-40, Kreuzberg, Mo–Fr 12–16 Uhr, www.facebook.com/zolakreuzberg