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Interview

Food Campus Berlin: Ein Gespräch über die Zukunft der Stadternährung

Am Teltowkanal in Tempelhof entsteht bis 2023 der Food Campus Berlin – 40.000 Quadratmeter für Produktion und Experiment. Ein Gespräch mit dem Initiator Jörg Reuter über Insektenproteine, Küchenroboter und die Zukunft der Stadternährung.

Ernährunsgwende mit Wasserzugang: Initiator Jörg Reuter am künftigen Food Campus Berlin. Foto: Tobias Meyer

Jörg Reuter kennt sich aus mit den Lebensmitteln. Der studierte Agrarwissenschaftler hat 20 Jahre lang die Großen der Branche beraten und nebenbei in Mitte den kleinen Lebensmittelladen „Vom Einfachen das Gute“ initiiert. Nun also ein neues und, ja, sehr großes Projekt: der Food Campus Berlin als Think Tank und gläserne Produktionsstätte zukünftiger Ernährungskonzepte.

Food Campus: Der erste Lehrstuhl für alternative Proteine?

tipBerlin Herr Reuter, Food Campus Berlin, das klingt jetzt fast nach Harvard oder Oxford.

Jörg Reuter Nichts dagegen – ich hätte sogar konkrete Vorstellungen: den ersten Lehrstuhl für alternative Proteine, den ersten Lehrstuhl für Regionalität und Resilienz und den ersten Lehrstuhl für Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwirtschaft. All das gibt es im deutschsprachigen Raum noch nicht. Schon gar nicht in direkter Anbindung an einem Ort, an dem täglich Lebensmittel produziert werden.

tipBerlin Von welchen Dimensionen reden wir dabei?

Jörg Reuter Wir reden von 40.000 Quadratmetern Geschossfläche, auf denen knapp 1.000 Arbeitsplätze entstehen werden. Klassische Büroflächen, gläserne Manufakturen und Produktionsräume, Coworking-Labore. Wenn ein Unternehmen im Entstehen ist, sind 1.000 Quadratmeter heute viel und morgen viel zu wenig. Diesem Bedarf wollen wir mit flexiblen Lösungen begegnen.

tipBerlin Coworking-Labore klingen jetzt nicht nach den angesagten Bilderwelten des Kulinarischen: nach Mutterboden unter den Fingernägeln und krumm gewachsenen Möhren.

„Wenn Küchenroboter gewisse Arbeitsschritte übernehmen, hätte ich da nichts gegen“

Jörg Reuter Ich unterliege nicht der sentimentalen Utopie, die Ernährunsgwende einzig mit solchen Graswurzelbewegungen hinzubekommen. Auch wenn wir etwa mit unserer Fischerei Köllnitz genau so arbeiten. Der Food Campus wird sich also auch den drängenden Problemen einer industrialisierten Lebensmittelproduktion stellen. Eine andere Frage ist natürlich, ob man dafür auch in der Ästhetik des Technoiden bleiben muss. Wenn es aber auf dem Food Campus eine Kantine geben wird, in der Küchenroboter gewisse Arbeitsschritte, auch am Gast, übernehmen, hätte ich da nichts gegen.

tipBerlin Der Food Campus soll also ein offener Ort für die Stadtgesellschaft werden. Sind Fragen wie die nach unseren künftigen Grundnahrungsmitteln da cool genug?

Jörg Reuter Der urbane Durchmarsch der Hafermilch ist doch ein gutes Beispiel. Das ist ja eigentlich ein sehr einfaches Produkt, das man lange nur mit Notzeiten verbunden hat. Plötzlich ist Hafermilch hip. Ich glaube, dass man die großen Zukunftsthemen des Lebensmittelmarktes durchaus unterhaltsam erzählen kann.

Nur die Fassaden werden noch einmal anders aussehen: Entwurfsskizze des Food Campus in der Teilestraße. Foto: Tobias Meyer

tipBerlin Als da wären?

Jörg Reuter Nachhaltigkeit, pflanzenbasierte Lebensmittel und eine neue Wertschätzung der Stadt-Land-Beziehungen. 

Das Nackensteak der Zukunft wird ein Fleischersatzprodukt sein

tipBerlin Meinen Sie mit pflanzenbasierten Lebensmitteln auch Fleischersatzprodukte?

Jörg Reuter Unbedingt. Gerade weil ich natürlich weiß, dass die bio-bürgerlichen Besseresser:innen darüber erstmal die Nase rümpfen. Wenn aber ein Discounter heute verkündet, 2030 kein Fleisch mehr aus so genannter Massentierhaltung anzubieten, dann geschieht das nicht aus einem Altruismus heraus. Es geschieht, weil man ahnt, dass sich die Konsumgewohnheiten ändern werden und dass das marinierte Nackensteak der Zukunft eben ein Fleischersatzprodukt sein wird.

tipBerlin Reden wir jetzt über „Laborfleisch“?

„Uns geht es um den Beweis, dass ein Patty aus dem Reagenzglas kein Frankenstein-Food ist“

Jörg Reuter Ob nun zellbasierte oder pflanzenbasierte Proteine den Markt machen werden, kann man heute noch nicht sagen. Wohl aber, dass diese Entwicklung unumkehrbar ist. Uns geht es am Food Campus schon auch um den Beweis, dass so ein Patty aus dem Reagenzglas kein Frankenstein-Food ist. Das ist näher dran am europäischen Gaumen als, sagen wir, ein Insekten-Burger.

tipBerlin Insekten essen wir also auch künftig eher nicht im großen Stil?

Jörg Reuter Ich glaube an Insektenproteine in der Tierernährung. Schon alleine, weil es ein Irrsinn ist, den größten Teil der landwirtschaftlichen Nutzflächen nur für Futtermittel zu reservieren. Darüber hinaus hat der Verzehr von Insekten in unserem Kulturkreis nicht nur keine Tradition, er ist richtiggehend mit Ekel assoziiert. Und wenn ich Proteine aus so etwas Schönem wie einer unschuldigen grünen Erbse holen kann, warum dann zur Soldatenfliege greifen?

tipBerlin Weil es vielleicht vernünftig wäre?

Jörg Reuter Essen ist aber eben nie nur ein Vernunftthema. Wenn es das wäre, könnten wir die gravierenden Probleme der Welt sofort lösen. Wir wissen um den Klimawandel. Wir wissen um das Artensterben und den Verlust an Biodiversität. Und ich unterstelle auch mal, dass die Wenigsten willentlich dem Klima schaden wollen. Wir müssten also nur anders konsumieren und anders essen.

tipBerlin Aber?

Jörg Reuter Essen macht uns eben auch glücklich, Essen bringt Menschen zusammen. Essen ist Kultur und Identität. Bei aller Faszination etwa um alternative Proteine, kulinarisch ist da noch sehr viel Luft nach oben.

tipBerlin In Berlin entsteht Ihr Food Campus. Bei Storkow betreiben Sie die Fischerei Köllnitz, die nun noch um einen landwirtschaftlichen Betrieb ergänzt wird. Braucht es diese Trennung, hier die Stadt, dort das Land?

„Was sollen unsere Dächer denn noch alles leisten?“

Jörg Reuter Wenn Sie auf Urban Farming oder Roof Top Gardening anspielen: Ich glaube nicht dran. Zum einen ist es sehr aufwendig, auf versiegelten, kleinteiligen Flächen nutzbare Böden aufzubringen. Wir wollen Regenwasser auffangen, wir wollen Solarenergie erzeugen, was sollen unsere Dächer denn noch alles leisten? Vor allem haben selbst unsere Ballungsräume genügend Land drumherum, das sich für eine nachhaltige Lebensmittelerzeugung ganz wunderbar eignet.

tipBerlin Dabei sehnt sich das urbane Milieu doch nach der Selbstversorger-Illusion.

Jörg Reuter Aus didaktischen oder emotionalen Aspekten finde ich es sehr wohl interessant, in der Stadt Landwirtschaft zu betreiben und die Menschen näher zu den Lebensmitteln zu bringen. Ich sehe es nur eben nicht als eine Ernährungsstrategie.


Bis Ende 2023 wird in der Teilestraße in Tempelhof der Food Campus Berlin entstehen: 40.000 Quadratmeter Geschossfläche für Lebensmittelhandwerk, Lebensmittelwirtschaft, Lebensmittelindustrie. Wobei es Geschäftsfüher Jörg Reuter gerade um dieses Miteinander geht: Im Spannungsfeld von Klimawandel und Regionalität sowie Digitalisierung und Handwerk arbeiten Wissenschaftler:innen, Köch:innen, Lebensmitteltechnolog:innen, Food-Nerds, Techies und Produzent:innen an Konzepten einer neuen Ernährunsgkultur.

  • Weitere Informationen findet ihr hier

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