In diesen Lokalen ist garantiert kein Tisch mehr frei: Ghost Restaurants kochen einzig für das Liefergeschäft. Über einen Trend, der in Berlin nicht nur in der Pandemie Zukunft hat
Tiffin, das ist mehr als ein Gefäß. Es ist das dinghafte Symbol des indischen Lebensgefühls: ein zylindrisches Blechgefäß, das bei näherer Betrachtung aus mehreren übereinandergestapelten Blechbehältern besteht. Zu Dutzenden hängen die Tiffins an den Fahrrädern der Dabbawalas, was wiederum die Essensauslieferer sind, die die indischen Megacitys mit frisch gekochten Mittagessen versorgen. Das Konzept Lieferando, auch dazu kommen wir später, ist also eigentlich eine ziemlich alte Idee.
Nun ist Tiffin aber auch ein indisches Restaurant auf der Kreuzberger Oranienstraße. Doch das ist zu vernachlässigen, weil man auf der Oranienstraße auch mit der besten Nase für Kardamom- und Kreuzkümmelaromen kein Restaurant mit dem Namen Tiffin finden wird.
Ghost Restaurants: Ein Phänomen aus den USA
Suleman Thaker, der als Geflüchteter aus Pakistan nach Berlin gekommen war, nutzt hier einzig die Küche eines befreundeten Gastronomen. Sein langsam gekochtes und unglaublich mürbes Lamb Shank Pulao und den cremigen Reispudding Kheer kann man sich aber einzig nach Hause liefern lassen. Und das würde auch nach dem Lockdown so bleiben.
Ghost Restaurants, vor vier oder fünf Jahren war das noch ein fernes Phänomen aus den urbanen Innenstädten der USA. Denn wo sich die Gewerbemieten in astronomische Höhen aufgemacht hatten, blieb jungen Gastronom*innen oftmals die Untermiete in einem anderen Restaurant – und das Außer-Haus-Geschäft.
Gleichzeitig begann der Siegeszug der großen, monopolisierten Lieferdienste. Und das nach Hause gelieferte Essen war bald ein reichlich asymmetrisches Geschäft: Hunderte Restaurants buhlten um Kund*innen. Ausgeliefert aber wurde alles mit den gleichen orangeroten Lieferando-Rädern.
Die Geister-Restaurants existieren vor allem digital
Auch dabei sollte es nicht bleiben. In Großküchen, oftmals betrieben von den Lieferdiensten selbst, wurden bald diametral gegensätzliche Länderküchen und diverse Street-Food-Konzepte von ein und derselben Crew zubereitet. Wie die einzelnen Restaurants da noch zu unterscheiden waren? An ihren hippen Namen und einem sorgsam gepflegten Auftritt in den sozialen Medien. Ghost Restaurants existieren vor allem digital.
In Berlin sollte 2017 das erste Dark Kitchen entstehen. Die Gemüseküche von Beets & Roots konzentrierte dort das Außer-Haus-Geschäft, blieb, mit zwei Standorten in Mitte, auch weiterhin vor allem ein klassisches Deli und Restaurant.
Gegenwärtig ist das Startup Vertikal Food der größte Geisterkoch der Hauptstadt. Der gebürtige Berliner Beschir Hussain hat für den Lieferdienst Foodpanda in Dubai gearbeitet – und kehrte nach der Übernahme durch die Lieferando-Mutter Delivery Hero an die Spree zurück. Womit Hussain die drei verschiedenen Ghost Restaurants von Vertikal Food bewirbt? Begriffe wie „original“ und „authentisch“ finden sich auffallend oft auf der Homepage.
Es gilt: Langsam kochen, langsam wachsen
Sachin Obaid, der das Tiffin gemeinsam mit Suleman Thaker aufgezogen hat, beide kennen sich von der gemeinsamen Arbeit im thailändischen BBQ-Restaurant Khwan, weiß um diese scheinbar übermächtige Konkurrenz. Und sieht genau darin eine Chance: „Zu viele Restaurants versuchen, den Spielregeln von Lieferando zu genügen. Wenn diese Pandemie aber etwas Gutes hat, dann dass die Leute jetzt auch zuhause Wert auf gute Produkte und wirklich achtsam gekochtes Essen legen.“
Das ist die Nische, in die Sachin Obaid zielt. Weshalb er zum Essen auch keine Cola in der Literflasche anbietet, sondern Craftbeer von BRLO und österreichischen Naturwein. „Wir sind nicht die, die die Stadt einfach irgendwie satt machen wollen. Berlin ist ja noch nicht lange eine wirklich kulinarische Stadt, und was die indische Küche angeht schon gleich gar nicht.“
Nun, der Erfolg gibt Sachin Obaid recht, einerseits. Bisher war man noch jedes Wochenende – das Tiffin kocht momentan von Freitag bis Sonntag – ausverkauft. Und wer bis Mittwoch nicht vorbestellt hatte, musste aufs kommende Wochenende vertröstet werden. Andererseits kochen er und Suleman Thaker aber noch auf kleiner Flamme. Mit 25 täglichen Bestellungen haben sie angefangen und liefern inzwischen bis zu 50 aus.
In einem Markt, in dem alles immer noch schneller und noch billiger funktionieren muss, nehmen sie ganz bewusst das Tempo raus. Nicht nur bei ihrem über 25 Stunden gegarten Lamm.
Lieferdienste als Chance für besseres Essen
Auch Hendrik Haase, Food-Experte und Mitbegründer der Kreuzberger Metzgerei Kumpel & Keule, sieht gute kulinarische Gründe für die neuen Geisterküchen: „Es hat ja in Deutschland schon Tradition, dass man sich bei neuen Konzepten erst mal auf die negativen Aspekte fokussiert. Ich glaube aber im Gegenteil, dass eine Küche, die sich ganz auf den Lieferdienst konzentriert, letztlich das bessere Essen anbieten kann. Was kann ich ohne Qualitätsverlust vorkochen, was muss ganz unbedingt frisch gemacht werden, welche Speisen eignen sich besser für den Transport – am Ende klingt das leckerer als die typische matschige Pizza.“
Wichtig, so Haase, seien einmal mehr „aufgeweckte und genau hinschmeckende Konsument*innen“, die unterscheiden könnten „zwischen einem handwerklichen Essen und der Industrieküche mit dem schick gemachten Instagram-Profil.“ Und spätestens das würde die Geisterküchen auch nicht von den richtigen Restaurants unterscheiden: „Da habe ich ja auch immer die Wahl ob ich nun zu Vapiano gehe oder doch besser zum Italiener in meinem Kiez.“
- Tiffin Das wöchentlich wechselnde Menü wird von Freitag bis Sonntag jeweils zwischen 17 und 19 Uhr ausgeliefert, gegenwärtig in Alt-Treptow, Friedrichshain, Kreuzberg, Mitte, Neukölln, Prenzlauer Berg und Wedding, www.tiffin.berlin
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