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Kommentar

Kein Spargel wegen Corona? Ein kritischer Blick auf das begehrte Gemüse

Wird es wegen Corona in diesem Jahr keinen Spargel geben? Während Berlin gerade eine halbe Milliarde Euro an arbeitslos gewordene Schauspieler*innen und Webdesigner*innen verteilt und zugleich der Senat darüber berät, ob man 500 Euro Strafe dafür veranschlagen sollte, wenn jemand ohne triftigen Grund sein Haus verlässt, vollzieht sich im Hintergrund eine kulinarische Krise. Weil die billigen Spargelstecher*innen aus Osteuropa wegen Corona nicht einreisen dürfen, kommt vielleicht kein Königsgemüse auf den Tisch und die Saison fällt aus

Spargel und Corona. Weil die Saisonarbeiter aus Osteuropa fehlen kommt vielleicht in Berlin kein Spargel auf den Tisch
Der Spargel ist begehrt, doch dahinter steckt ein ausbeuterisches System. Wegen Corona fällt die Saison vielleicht sogar aus. Foto: Unsplash

Die Schlagzeilen häuften sich, Tausende rumänische und polnische Spargelstecher dürfen in diesem Jahr nicht einreisen. Alarm! Corona macht es unmöglich und die Landwirte drehen durch, denn ohne die billigen Hilfsarbeiter können sie nicht ernten und das weiße Gold verkaufen. Eine ganze Branche steht vor einer existenziellen Krise. 

Berlin und sein Umland feiern einen regelrechten Kult um das Gewächs. In Suppen und Cremes, mit Schinken und Schnitzel oder im Salat kommt es daher. Keine Landpartie im April oder Mai endet ohne abschließende Spargel-Verköstigung. Ja, lecker ist es. Und dazu noch die jungen Kartoffeln und etwas zerlassene Butter. Zum Dessert dann Vanilleeis mit frischen Erdbeeren. Da ist die Welt in Ordnung. Ist sie aber nicht ganz.

Das System Spargel und mithin auch unser aller Spargelkonsum gründet letztlich auf einer ausbeuterischen Praxis. Die billigen Arbeitskräfte aus Osteuropa werden nach Deutschland gekarrt, um hier eine Arbeit zu machen, die Einheimische nicht bereit sind zu tun. So werden Leute aus ökonomisch benachteiligten Ländern dafür missbraucht, den Spargelpreis zu drücken und so das Spargelgeschäft am Laufen zu halten. Das liegt nicht allein an der Feudalmentalität deutscher Spargelbauern, sondern auch daran, dass die Gewinnmargen in der Lebensmittelproduktion extrem niedrig sind.

Und auch das gehört zur Wahrheit: Ein agrarökonomische Studie hatte vor ein paar Jahren mal festgesellt, wie viel das regionale Gemüse aus der Nachbarschaft (jeder deutsche Ballungsraum hat ja „seine“ Spargelregion) teurer sein darf als der Discounterspargel aus Griechenland. Ergebnis: Wir Deutschen mögen auch den Spargel günstig.

Am Spargel kristallisieren sich inmitten der Corona-Krise also zwei Probleme heraus: Zum einen ist die ökonomische Bewertung von Arbeit in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen ein Skandal. Warum systemrelevante Berufe wie die Pflegekraft oder die Krankenschwester so schlecht bezahlt werden, in anderen Branchen, etwa dem Finanzsektor, wo nicht zwangsläufig härter gearbeitet wird und die im Ernstfall relativ nebensächlich sind, man aber so viel mehr verdienen kann, ist nur mit neoliberaler Profitgier zu erklären.

Auch das Spargelstechen wird zu schlecht bezahlt, sonst würden es die Einheimischen machen. Würde es in den Landwirtschaft wiederum gerechter zugehen, wäre der Spargelpreis erheblich höher, was auch nicht jedem schmecken würde. So aber muss eben der Pole oder der Rumäne ran. 

Das populistische Bashing von AfD-wählenden Hartz-IV-Empfängern, die in strukturschwachen Spargelanbaugebieten leben, greift trotzdem nicht. Dass der besagte AfD-Fan sich selbst zwölf Stunden am Tag in die Erde hockt, ist kaum vorstellbar und hat eben mit der Bewertung dieser Arbeit zu tun. Man ist sich vielleicht nicht unbedingt zu schade für den Job, aber man ist es sich nicht wert, weil man im Zweifel bessere Verdienstmöglichkeiten hat, oder die Stütze reicht.

Dazu kommt der internationale Kontext. In Zeiten der Globalisierung ist nahezu jedes Produkt ethisch belastet und gründet auf Ausbeutung. Vom Smartphone über das T-Shirt von H&M bis zum Billigfleisch beim Discounter, alles moralisch bedenklich. Das stimmt, es läuft viel schief. Das hebt dennoch nicht die Spargelproblematik auf. 

Und weil jetzt die Spargelsaison beginnt und zugleich wegen der Corona-Krise gefährdet ist, wäre es ein guter Anlass, auch mal darüber nachzudenken, was bei uns im Frühling so auf den Tisch kommt. Und ob der Spargel nicht ganz allgemein viel zu billig ist, die Marktlage Landwirte zu sehr unter Druck setzt und osteuropäische Saisonarbeiter ausbeutet. Schöne Gedanken für die nächste Spargelcremesuppe.


Corona-Spaziergänge

Jacek Slaski hat den ersten Corona-Spaziergang quer durch Friedrichshain gemacht. Der zweite geht quer durch das Herz von Kreuzberg. Der dritte führte durch das verwaiste Zentrum der Stadt: Mitte. Im vierten geht Bert Rebhandl von Kreuzberg zum Treptower Park und zurück. Dann ging es vom Potsdamer Platz bis zum Winterfeldtmarkt.

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Das Coronavirus ist eine echte Bedrohung für die Gesundheit, aber auch für die finanzielle Existenz der Berliner*innen. Ihr wollt helfen? tip Berlin hat ein Portal eröffnet, auf dem sich Hilfesuchende und die, die helfen wollen, vernetzen können: https://www.tip-berlin.de/tip-hilft/

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