Eigentlich will es doch keiner so richtig wissen! Wie die Billigprodukte hergestellt werden, wie Rinder gehalten werden, deren Fleisch für die Hackfleischpellets der weltweiten Bulettenbrater verarbeitet wird. „Wir hassen teuer“ ist nun der ebenso braingewashte Slogan, der suggeriert, wir zahlen eigentlich sonst für alles viel zu viel. Wer gutes Geld zahlt, ist dumm, so der Subtext. Doch wer den Eröffnungsfilm „Food, Inc.“ gesehen hat, der weiß wieder, warum er lieber zum Bioladen um die Ecke geht und dort seine Lebensmittel einkauft.
Das Kulinarische Kino der Berlinale bezieht mit diesem Eröffnungsfilm eine klare Position: gegen seelen- und skrupellose Massenproduktion. Nicht dass wir solche Szenen nicht schon mal gesehen haben! Wenn Hühner zu eng gehalten werden, wenn sie vor lauter schwerem Brustfleisch nach vorne in ihre und andere Hühnerkacke fallen. Nicht dass wir nicht wüssten, dass Billigfleisch verheerende Aufzuchtbedingungen von Rindern und Schweinen bedeutet. Aber wenn einem diese ignorante, dem Gewinn über Masse geschuldete industrielle Produktionsweise wieder mal vor Augen geführt wird, ekelt es den Betrachter vor dieser gnadenlosen Politik der Großkonzerne, wie sie mit der Ware Tier, mit dem Mensch als Konsument umgehen.
Wenn eine vierköpfige Familie sich das Ein-Dollar-Burger-Menü leisten kann, aber das frische Gemüse im Supermarkt nicht, dann kann etwas nicht stimmen. Ob in den USA oder in Europa. Was soll Tim Raue, Berliner Sternekoch, nach so einem Film nur servieren? Vegetarisches – ganz einfach. Unter dem Motto „Pulp Non-Fiction“ serviert er ein Stew von Kürbispulp, Möhre und Ingwer mit Winterkräutern. Die Zuschauer werden es nach diesem Film genießen – und Tim Raues Einfallsreichtum dazu. Und wie nach jedem der Vorführungen gibt es einen Talk. Dabei ist unter anderem Renate Künast – und die wird ihren Senf ordentlich dazugeben.
Um Liebe und Einfallsreichtum geht es in „Dieta mediterrбnea„. Wild und leidenschaftlich fallen die Protagonisten übereinander her. In diesem spanischen Lustspiel sind Dreh- und Angelpunkt Sofias Kochkünste. Frauen sollen eigentlich nicht für Geld kochen, das gehört sich nicht, so erfährt man gleich zu Beginn. Doch die temperamentvolle Frau – mitreißend gespielt von Olivia Molina – setzt sich durch.
Zu kulinarischen Höchstleistungen treiben sie Liebhaber Frank und Ehemann Toni. Diese Dreierbeziehung erlebt ihre Höhen und Tiefen. Mal ist es Frank, der Sofia aus ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter dreier Kinder rausholt, mal ist es Toni, der ihre Ausbildung in Frankreich unterstützt und mit Frank gemeinsam ein Restaurant kauft – und man möchte gern glauben, dass so eine Dreierbeziehung Garant für gutes Essen ist. Als Frank seine eigene Beziehung mit einer Japanerin eingeht, beginnt Sofia in die Molekular-Küche einzusteigen. Keine Leidenschaft mehr? Seelenlos? Keinen Geschmackssinn? Sie beißt in einem Disput selbstvergessen in eine Zwiebel und hält diese für einen Apfel. Na, was da Molekular-Star Ferran Adria und Cristiano Rienzner dazu sagen würden? Doch die Liebe zu dritt lässt alles wieder gut werden. Und Kochen bedeutet für Regisseur Joaquнn Oristrell ein improvisierter künstlerischer Akt.
Kaum jemand anders als Kolja Kleeberg nimmt man solch große Geste ab. Mit seiner unzweifelhaften Begabung als Sänger und Entertainer vermutet man, dass dieser verlässliche Berliner Sternekoch mal gerade so ein einfaches, doch großartiges Gericht hinwirft. Eben einfach mal so „Katalanisches Frühstück zu dritt“, was so viel bedeutet wie scharfer Venusmuscheleintopf mit Saalower Schweinerippchen, Bratwurst und Reis. Auch in seiner Küche stehen ausschließlich Männer an den Töpfen. Was es bedeutet, in eine Männerdomäne einzudringen, davon kann Lйa Linster in der anschließenden Diskussion mit Regisseur Joaquнn Oristrell, Marta Esteban und Alfred Biolek ein Lied singen.
…
Lesen Sie weiter in tip 04/08 auf Seite 20/21
Text: Eva-Maria Hilker
Fotos: Ali-Ghandtschi, Participant-Media_River-Road-Entertainment, Messidor-Films
Kulinarisches Kino
Martin-Gropius-Bau und Gropius-Mirror-Restaurant,
Niederkirchnerstraße 7, Kreuzberg,
Eintritt: Film 7 Ђ, mit Menü 49 Ђ
- Food, Inc. So 8.2., 15 Uhr,
- Special im Friedrichstadtpalast, anschließend Stew von Tim Raue;
Pranzo di Ferragosto Mo 9.2., 19.30 Uhr, anschließend Menü von Lйa Linster;
Antique Mo 9.2., 22 Uhr;
Hungry for Change Di 10.2., 17 Uhr;
Dieta mediterrбnea Di 10.2., 19.30 Uhr, anschließend Menü von Kolja Kleeberg;
Haiti Chйrie Di 10.2., 22 Uhr;
Food Matters Mi 11.2., 17 Uhr;
Snijeg Mi 11.2., 19.30 Uhr, anschließend Menü Hendrik Otto;
Pirate for the Sea Mi 11.2., 22 Uhr
Terra Madre Do 12.2., 19.30 Uhr, anschließend Menü von Cornelia Poletto;
Nos enfants nous accuseront Do 12.2., 22 Uhr;
What’s On Your Plate? Fr 13.2., 9 Uhr, anschließend Menü von Alf Wagenzink;
siehe auch tip-Booklet auf Seite 49
Mehr Trends und Tipps:
Japanischer Reiswein immer beliebter
Gute Champagner-Adressen in Berlin