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Gastronomie und Gentrifizierung

Neukölln wird immer weiter gentrifiziert – „Wo sollen die Leute denn hin?“


Nach Schillerkiez und Kreuzkölln ist jetzt auch das ­Quartier Karl-Marx-Straße dran: Der Kiez verändert sich und mit ihm seine Küchen. Neukölln, quo vadis?

Fundament des Protestes: Aus dem Herzen Neuköllns soll ein bisschen Silicon Valley werden, Foto: Jürgen Ritter / imago

„Es bewegt sich viel im Aktiven Zentrum Karl-Marx-Straße/Sonnenallee“ ist auf der Webseite der Initiative „Aktion! Karl-Marx-Straße“ zu lesen und tatsächlich, die Karl-Marx-Straße befindet sich mitten in einer Schönheits-Operation. An der Straße selbst wird seit Jahren gebaut, auch die Alte Post putzt sich heraus. In den nächsten Wochen und Monaten wird auch das Schnäppchencenter am Alfred-Scholz-Platz verschwinden, um in das Projekt „101 Neukölln“ transformiert zu werden. Gegenüber wird aus dem flachen Eckhaus vis à vis des Straßencafés Rixbox wohl ein Hostel und es brodeln Gerüchte, dass auch der C&A und die alte H&M-Filiale sich bald verwandeln.

Aus dem Herzen Neuköllns soll ein bisschen Silicon Valley werden. Mit Gründerzeitbauten und Straßenchic. Schließlich, so sagt es die Zukunftsmusik, wird es irgendwann einen großen Flughafen geben. Und dann wird der Bezirk nicht mehr nur gefühlt zur Mitte des neuen, kosmopolitischen Berlins werden, sondern ganz tatsächlich. Da ist es nur eine logische Konsequenz, dass der belgische Büro-auf-Zeit-Riese Regus als Ankermieter in die Alte Post zieht – der Bezirk überspringt einige Stadtentwicklungsstufen und spielt gleich Frankfurter Bankenviertel.

Wo gentrifiziert wird, ist Gastronomie nicht weit: Es wird gemunkelt, dass die Macher hinter 101 Neukölln eine Markthalle in das Gebäude integrieren möchten – in die Alte Post solle gar ein Jamie-Oliver-Restaurant ziehen. Ob an solchen Gerüchten etwas dran ist, wird sich noch zeigen. Immer aber spiegeln solche Gerüchte ja den Geist der Zeit. Bislang ist nicht viel bekannt: Zwar stellten Vertreter dieser Bauprojekte ihr Vorhaben auf von der Aktion! Karl-Marx-Straße und dem Quartiersmanagement initiierten Veranstaltungen schon vor, blieben aber vage, was konkrete Fakten betraf, wie ein Teilnehmer dieser Informationsrunden erzählt.

Was bedeuten solche Großprojekte für die anderen Gastronomen im Kiez? Martin Müller, seines Zeichens Urberliner, Koch und Gastgeber im Tisk auf der Neckarstraße, sieht die Entwicklungen positiv. „Die ganzen Leute, die dann hier arbeiten, müssen ja auch irgendwo essen.“ Das Restaurant ist eines der ersten seiner Art im Boddinkiez, gehobenes Niveau, gehobene Preisklasse, Berliner Schnauze. Ein Restaurant für die Nachbarschaft? Nicht ganz. „Aber die Leute feiern es schon, dass das hier so ein Leuchtturm ist“, erzählt Müller. Und sie schauen auch immer öfter mal rein, mit Broiler für zwei als Einstiegsdroge, wie er beobachtet.

Weiter unten auf der Karl-Marx-Straße hat ein anderer „Leuchtturm“ eröffnet, das Paolo Pinkel. In den Räumlichkeiten eines Elektromarktes finden sich nun eine lange Bar und drei Küchen mit drei verschiedenen Konzepten. Hier haben die Betreiber, die in verschiedenen Kombinationen auch hinter der Dschungel-Bar und der Filmkunstbar Fitzcarraldo stecken, fast alles selbst gemacht. Und das über anderthalb Jahre. DIY war alternativlos: Während bei den Großprojekten wenige Schritte weiter internationale Investoren über Raumdesign und Zielgruppenoptimierung debattieren, stehen hinter dem Paolo Pinkel keine Anleger, sondern nur die Gründer, ihre Idee – und Kredite bei der Bank.

Der Bezirk schmückt sich gerne mit diesen Entwicklungen und unterstützt sie bisweilen tatkräftig mit Genehmigungen und mit kostenloser PR – besonders für die Großinvestoren. Die ehemalige Bürgermeisterin Franziska Giffey ließ es sich beispielsweise nicht nehmen, die Firma hinter dem Projekt Alte Post, Commodus, als Hoffnungsträger darzustellen. Dass hinter Commodus die in Berlin nicht unbedingt beliebten Samwer-Brüder stecken sollen, ist da nicht so wichtig.

Die Probleme im Kiez verschwinden aber nicht einfach so, auch nicht mit gastronomischen Leuchttürmen an der Spitze. Der Boddinkiez ist das, was manche abfällig einen „sozialen Brennpunkt“ nennen. Doch das Quartier auf seine Probleme zu reduzieren und Stadtentwicklung per Masterplan vorzuschreiben kann auch keine nachhaltige Lösung sein. In anderen Großstädten der Welt sieht man was passiert: Die Wohnungen verschwinden und werden in Luxusimmobilien verwandelt, doch die Menschen bleiben da. Aber dann eben auf der Straße. Wie Martin Müller selbst sagt: „Wo sollen denn die Leute sonst hin?“

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