Berlins Beste

Dylan Watson-Brawn: Deutschlands bester Koch arbeitet in Wedding

Dylan Watson-Brawn ist für den Gault&Millau der beste Koch Deutschlands 2022. Er betreibt das Ernst und das Julius im Wedding – aber wie ist er denn gerade dort gelandet? Unsere Autorin hat den Spitzenkoch besucht, über den selbst in New York gesprochen wird: „How’s Ernst doing?“

Spitzenkoch Dylan Watson-Brawn vor seinem Restaurant Ernst: radikal zeitgenössisch. Foto: Luka Godec

Ernst-Koch Dylan Watson-Brawn: Von Vancouver in den Wedding

Dylan Watson-Brawn glaubt fest an das Terroir, den einzigartigen Charakter, der einem Produkt durch den Boden und überhaupt seine Herkunft verliehen wird. Über das Obst und Gemüse in seinem Restaurant Ernst sagt er: „Wir haben zum Beispiel die gleichen Samen an drei verschiedene Bauern gegeben, um zu sehen, auf wessen Boden oder unter welchen Umweltbedingungen sie am besten wachsen und am leckersten sind.“

Das eigene Terroir des Manns aus Vancouver ist – zumindest teilweise – die Gegend rund um den Nettelbeckplatz am S-Bahnhof Wedding. 2014 zog er als 20-Jähriger hierher, damals hatte er bereits Praktika in den besten, ja, besten Restaurants dieser Welt absolviert, im Ryugin in Tokio, im Noma in Kopenhagen, im Eleven Madison Park in New York, und gerade seinen privaten Supper Club gegründet, der in avancierten Feinschmeckerkreisen bald zum Stadtgespräch geworden war. Nichts davon verschaffte ihm einen Vorteil auf dem Berliner Mietmarkt.

„Ich ging zu diesen Wohnungsbesichtigungen, wo sieben Millionen, Milliarden Menschen waren“, sagt er. „Dann habe ich mir hier im Wedding eine Wohnung angeschaut und war, damals zumindest, der einzige.“

Heute Ernst, damals Casino am Nettelbeckplatz

Als Watson-Brawn und sein Geschäftspartner Spencer Christenson dann 2017 beschlossen, ihr eigenes Restaurant zu eröffnen, hatten sie sich nach Orten in der ganzen Stadt umgesehen. Um sich dann für ein ehemaliges Spielcasino am Nettelbeckplatz zu entscheiden, das weniger als zwei Blocks von Watson-Brawns damaliger und auch heutiger Wohnung entfernt liegt. „Nicht nur wegen der günstigen Miete, sondern weil uns die Eigentümer versprochen hatten, wir könnten wirklich machen, was wir wollten.“

Sternenküche im Ernst. Foto: Luka Godec

Was sie wollten, war etwas außerordentlich Bescheidenes und gleichzeitig wild Extravagantes: eine einzige Theke, an der zwei Handvoll Gäste (inzwischen sind es noch einmal weniger) regionale Zutaten, die mit japanischen Techniken verfeinert und in bis zu 30 mundgerechten Gängen serviert wurden, zu ihrem absoluten saisonalen Höhepunkt genießen konnten.

„How’s Ernst doing?“

Eine Vision, die Watson-Brawn einen Michelin-Stern, die Aufnahme in die Liste der „World’s 50 Best“ und in diesem Jahr den Gault&Millau-Titel als bester Koch Deutschlands einbrachte. Es hat ihn zum Aushängeschild einer neuen Welle minimalistischer, produktorientierter Küche gemacht, die von den einen als radikal zeitgenössisch gefeiert und von anderen als protzig und überteuert verachtet wird. Internationale Feinschmecker:innen indes zieht es nun verlässlich in einen Teil Berlins, den sie normalerweise meiden würden. Und kommt etwa in New York das Gespräch auf die kulinarische Szene Berlins, fällt verlässlich der Satz: „How’s Ernst doing?“

An einem Dienstagmorgen herrscht in der offenen Küche hinter der unscheinbar grauen Fassade reges Treiben. Das Menü an diesem Tag besteht etwa aus getrocknetem Seetang, handgetauchten Jakobsmuscheln des arktischen Kultfischers Roddie Sloan und zumindest einem Teil des fleischigen Schweinekopfs, der derzeit auf der Theke zerlegt wird. Eine Duroc-Iberico-Kreuzung, erklärt Watson-Brawn.

Dylan Watson-Brawns nächste Baustelle: eine Sake-Brauerei

Wir sind hier gelandet nach einem kurzen Abstecher in die selbsternannte „Blase“ des Küchenchefs: Zuerst holten wir Eiskaffeegetränke in der Third-Wave-Rösterei Coffee Circle, dann versuchten wir, im Julius zu plaudern, dem größeren, zwangloseren Ernst-Ableger, den Dylan Watson-Brawn und sein inzwischen größeres Team in der Pandemie eröffnet hatten. Wir wurden aber von Baulärm unterbrochen – es stellte sich heraus, dass der von Watson-Brawns jüngster Baustelle kommt. Das Ladenlokal nebenan wird gerade in einen japanischen Pickle-Shop und eine Sake-Brauerei verwandelt.

Dylan Watson-Brawns Restaurant Julius an der Gerichtstraße. Foto: Julius Berlin
Dylan Watson-Brawns Restaurant Julius an der Gerichtstraße. Foto: Julius Berlin

Ernst und Julius, Coffee Circle oder das Silent Green Kulturquartier mit dem Restaurant Mars – es ist definitiv eine andere Nachbarschaft als die, in die Watson-Brawn 2014 gezogen ist.

Dennoch sträubt er sich gegen das Wort Gentrifizierung. „Natürlich wäre es falsch zu sagen, dass der Wedding reich ist, aber es ist hier gemischter, als die Leute denken“, sagt er und denkt lange über seine Worte nach, während er spricht. „Wenn ich mit Geschäftsinhaber:innen rede, die seit 20 Jahren hier sind, beschwert sich niemand über diese Entwicklung. Es gibt etwa dieses neue Burger-Restaurant, das der Sohn des Späti-Typen hier aus dem Kiez eröffnet hat. Ist das dann auch schon Gentrifizierung?“

Teller im Julius: das Terroir des Weddings. Foto: Maya Matsuura

Ein Burger im Burger 65 kostet 4,50 Euro, weniger als eine einzelne Tasse vom Julius-Barista Shoji Haras handgebrühten (und handgerösteten) Kaffee – ganz zu schweigen von den 225 Euro für ein Menü im Ernst – ohne Getränke. Ins Julius und ins Ernst, sagt Watson-Brawn, kämen aber auch Leute aus dem Wedding. Und spielt damit auf die stets stereotype Kritik an seinem Restaurant an, wie sie zuletzt im Juni 2022 in der „Berliner Zeitung“ zu lesen war (und die sich ausschließlich auf das Ambiente und die so artifiziell wie schlicht gestaltete Website des Ernst bezog).

Dylan Watson-Brawns Ernst im Wedding: Warum gerade hier?

Dennoch: Die meisten seiner Gäste besuchen den Wedding zum ersten Mal. „Viele sind positiv überrascht. Aber dann kommen auch Gäste, die in diesem angewiderten Ton fragen: Warum? Ähm, weil ich hier lebe und es mir hier gefällt?“ Wie um letzteres zu bestätigen, trifft man Dylan Watson-Brawn zum Lunch in Nachbarschaftslokalen wie Dan Thai, Örnek Lahmacun oder im Safari Imbiss. Doch anders als das Ezsra in Neukölln oder das Tulus Lotrek in Kreuzberg, die gehobene Köfte oder einen vegetarischen Döner servieren, versucht er nicht, die Vielfalt des Bezirks in seiner Küche widerzuspiegeln.

Ernst ist seine eigene Sache, ein Ort, von dem Watson-Brawn behauptet, er sei anders als jeder andere auf der Welt: nicht Noma („Wir haben keine Armee freier Praktikanten im Rücken, die Schmetterlinge sezieren“) und definitiv nicht Nobelhart & Schmutzig („Sie sind deutsch und nordisch beeinflusst, wir arbeiten mit japanischen Dashis und servieren auch mal eine einzelne Tomate auf einem Teller.“)

Wenn es das Terroir des Weddings also in die Restaurants von Watson-Brawn schafft, dann, weil man es sich nur an diesem Ort in der Stadt „als unabhängiges Unternehmen leisten konnte, schöne Dinge zu tun“. Das kann die Suche nach der perfekten Tomate oder das Brauen von Sake in einer heruntergekommenen Eckkneipe sein. Eine Küche, in der die Mitarbeiter:innen fair bezahlt und behandelt werden. Und das Servieren exquisit zubereiteter Mahlzeiten zu Preisen, die zwar hoch für Berlin sind, aber im Vergleich zu den japanischen Kaiseki-Tempeln erschwinglich bleiben: „Manchmal frage ich Gäste: Hey, woher kommst du? Und sie sagen, von 500 Metern entfernt. Das kommt tatsächlich häufiger vor, als ich erwartet hätte.“

  • Ernst Gerichtstr. 54, Wedding, 18.15 und 21.15 Uhr (jeweils gesetztes Dinner), Website
  • Julius Gerichtstr. 31, Wedding, Kaffee Do–So ab 10 Uhr, Mittagessen Sa & So ab 12 Uhr, Abendessen Do–So ab 18 Uhr, Website

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Feiner geht’s nicht: Sterneküche in Berlin. Drinks mit Tiefgang: Besucht die preisgekrönte Bar Wax on in Neukölln. Bringt alle an den Tisch: Shared Plates, Teller zum Teilen, gibt’s an diesen Adressen. Nicht Dylan Watson-Brawn, sondern der andere: Bob Dylan war in Berlin.

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