Als er vor 14 Tagen mit Antonio Bragato zusammengesessen hatte, Anlass war die Neueröffnung des so lauschigen wie gutgelaunten Il Calice Kiosk auf dem Walter-Benjamin-Platz, hatte unser Gastro-Redakteur Clemens Niedenthal diesen Halbsatz beinahe überhört. Er habe sich überlegt, gegen die Corona-Sperrstunde zu klagen, erzählte Antonio Bragato da beinahe nebenbei.
Für die gesamte Berliner Gastronomie ist diese Entscheidung nun zu einer Hauptsache geworden: Auf Empfehlung, besser gesagt nach einer Rüge des Oberverwaltungsgerichts hat der Berliner Senat jetzt die coronabedingt verfügte Schließzeit von 23 Uhr aufgehoben. Bragato selbst durfte als Kläger sein Restaurant Il Calice schon am gestrigen Montag länger öffnen. Ab morgen, Mittwoch, gilt denn auch für die ganze Stadt: Gegessen werden darf, so lange eine*r Hunger hat. Wir haben uns mit Antonio Bragato auf eine Pasta getroffen.
tipBerlin Antonio Bragato, wie viele Gastronom*innen haben sich denn heute schon bei Ihnen bedankt?
Antonio Bragato Sehr, sehr viele. Wobei es mir darum wirklich zu allerletzt gegangen ist. Wohl aber um ein solidarisches und auch gemeinschaftliches Vorgehen der Berliner Gastronomie. Wenn jetzt das eine oder andere Restaurant merkt, dass man gemeinschaftlich besser durch solche Krisen kommt, hätte ich schon viel erreicht.
tipBerlin Wie ist es überhaupt zu Ihrer Klage gekommen?
Antonio Bragato Am Ende durch eine Summe aller Entscheidungen während der Pandemie. Erst durften Restaurants nur noch mittags öffnen, dann nur noch als Take-away-Geschäft. Als dann die meisten Läden wieder aufmachen durften, wir aber noch nicht, habe ich mit zwei befreundeten Rechtsanwälten, namentlich Wolfgang und Sabine Usinger, gesprochen und wohl auch gesagt, dass ich klagen würde, wenn ich es mir denn leisten könnte. Die beiden meinten dann, dass sie durchaus auch eine gewisse Gängelung der Gastronomie notieren würden und dass sie das Ganze unentgeltlich übernehmen, quasi für die gute Sache
tipBerlin Nun durften Sie ja zwischenzeitlich wieder aufsperren.
Antonio Bragato Und sowohl das Verwaltungsgericht als auch Berlin hatten da wohl auf Zeit gespielt. Nach dem Motto, wenn die Restaurants wieder öffnen dürfen, ist der Grund der Klage ja obsolet. Also sind wir gleich in die nächsthöhere Instanz gegangen und haben auch gegen die Corona-Sperrstunde von zunächst 22 und später 23 Uhr geklagt. Mit dem nun bekannten Ergebnis: Das Oberverwaltungsgericht hat die Sperrstunde gekippt.
tipBerlin Was genau hatte Sie an der Sperrstunde gestört?
Antonio Bragato Die Beliebigkeit dieser Entscheidung. Warum denn bis 22 Uhr? Entweder dürfen wir öffnen oder wir dürfen eben nicht. Was passiert denn nach 22 Uhr, was vor 22 Uhr nicht passieren würde? Dieser willkürlich gesetzte Zeitpunkt war ein typischer politischer Kompromiss. Nur entscheidet so ein Kompromiss in der gastronomischen Praxis dann zack darüber, ob sich ein Abend für ein Restaurant lohnt oder eben nicht.
Die ganze Branche kommt gerade aus ihrer größten Krise und kann es sich nicht leisten, jetzt noch Wochen und Monate draufzuzahlen. Zudem empfand ich es auch als übergriffig, den Gästen durch dieses Werkzeug quasi ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich erlebe durchweg einen verantwortungsbewussten Umgang mit den wiedergewonnenen Freiheiten.
tipBerlin Wie frei fühlt es sich denn wieder an, Gastgeber zu sein?
Antonio Bragato Nun, die Krise endet auch mit dem Wegfall der Sperrstunde nicht. Die Hygieneregeln gelten weiter, die Abstandsregeln gelten weiter und die setzen wir ja auch alle um. Die Speisekarten werden ständig erneuert, Stühle und Tische fortwährend desinfiziert. Wir halten Distanz, auch und erst recht im Team, auch wenn wir gerade alle am liebsten umarmen würden.
Gastronomie, Kulturbetrieb und Veranstaltungswesen sind systemrelevant!
tipBerlin Apropos umarmen, kommt es als Ergebnis des Lockdowns vielleicht zu einem neuerlichen Schulterschluss der Berliner Gastronomie?
Antonio Bragato Das wäre tatsächlich zu wünschen. Denn die Corona-Pandemie hat nur noch einmal gezeigt, dass immer nur die in der Politik Gehör finden, die eine große, gut organisierte Lobby haben. Die Automobilindustrie etwa, oder die Landwirtschaft. In der Gastronomie gibt es traditionell viele Durchwurschtler*innen und sehr kleine Läden, denen oft die Ressourcen für Dinge fehlen, die über das Tagesgeschäft hinausgehen.
Das meine ich jetzt nicht nur auf Berlin beschränkt: Deutschlandweit arbeiten im Hotel- und Gaststättengewerbe zweieinhalb Millionen Menschen. Nimmt man noch den Kulturbetrieb und das Veranstaltungswesen dazu, reden wir von fünf bis sechs Millionen Menschen, die sich darum kümmern, dass unser Leben Spaß macht. Das ist im unmittelbaren Sinne systemrelevant. Es kann doch nicht sein, dass die alle auch bei der nächsten Krise wieder hinten runterfallen.
tipBerlin Was könnte man dagegen tun?
Antonio Bragato Die Wertschätzung muss sich ändern, von Seiten der Politik und der Bürokratie. Es kann etwa nicht sein, dass es bei staatlichen Förderkrediten oft schon ein Ausschlusskriterium ist, ein Gastronom zu sein. Darüber hinaus sollte man über einen reduzierten Mehrwertsteuersatz, sagen wir von zehn Prozent, nachdenken, der dann für die Gastronomie, die Kultur, für die schönen Dinge gilt und neue Spielräume ermöglicht.
Antonia Bragato ist seit rund 30 Jahren Gastronom in Berlin, seit 2002 im Il Calice am Charlottenburger Walter-Benjamin-Platz, eines unserer liebsten italienischen Restaurants. Der gegenwärtige Krise begegnet er ideenreich: etwa mit seinem Il Calice Kioski vor dem Restaurant, der zum abstandsgeregelten Picknick auf dem Walter-Benjamin-Platz lädt. Zudem wird er künftig immer am letzten Sonntag des Monats, ebenfalls auf dem Walter-Benjamin-Platz, einen Delikatessenmarkt veranstalten, Premiere am 28. Juni, 11-17 Uhr.
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Übrigens: Auch mit unserer Reihe „Weinmahleins“ waren wir mal im Restaurant Il Calice zu Besuch. Und weil dank Antonio Bragato die Sperrstunde aufgehoben ist, können wir auch wieder unsere Abende und Nächte in Kneipen verbringen. Wir haben 12 Kneipen in Berlin zusammengestellt, die so richtig schön urig sind. Und auch die Biergärten laden wieder ein: Hier gibt es wieder kühle Getränke im Warmen.