Noch eine Erkenntnis nach eineinhalb Jahren Pandemie: Gerade die besten Restaurants an der Spree sind mehr denn je Berliner Eigengewächse. Über den Geschmack einer Stadt.
Gibt es die eine Berliner Küche überhaupt?
Eigentlich wollte ich diesen Text schon seit gut einem Jahr schreiben. Ich saß, damals war gerade mal kurz kein Lockdown, auf der sehr schönen Terrasse des Restaurants Rutz in der Chausseestraße, um mit Marco Müller über die Berliner Küche zu reden. Im Frühjahr erst hatten das Rutz und sein Küchenchef ihren dritten Michelin-Stern bekommen. Drei Sterne – das gab es noch nie in Berlin. Ob es Marco Müller, in der Mark geboren und bis ins Mark am sogenannten Regionalen, ach was, Lokalen interessiert, also um eine Verfeinerung der Berliner Küche ginge?
Von wegen, sagte der Dreisternekoch, eine Berliner Küche gebe es doch gar nicht: „Die Leute denken dann an Wiener Schnitzel und an Königsberger Klopse und an Garmethoden und Zubereitungsformen, die es genauso in Masuren, in Ungarn oder meinetwegen in Tokio gab und gibt.“ Worum es Müller im Eigentlichen gehe, sei im Gegenteil „eine Emanzipation der Berliner Küche, das Suchen nach etwas Eigenem.“
Viel investieren – ohne Investoren
Das passt, dachte ich. Und musste an ein Gespräch mit Max Strohe und Ilona Scholl aus dem Tulus Lotrek denken, die ihre kühne Idee, ohne Investoren in der Hinterhand einfach mal eines der besten Restaurants der Stadt auf die Beine zu stellen, vor gut sechs Jahren in der Kreuzberger Fichtestraße realisiert haben. Nur, dass sie damals noch nicht wissen konnten, dass es mal eines der besten Restaurants werden sollte, wenngleich mindestens Max Strohe seine Ideen leidenschaftlich groß denkt.
Ilona Scholl: „Berlin ist noch immer ein Mekka für Leute, die vielleicht noch nicht wahnsinnig viel haben, aber wahnsinnig viel werden wollen. Diese Freiheit, einen Fine-Dining-Laden aufzumachen und nicht erstmal 200.000 Euro in Tischdecken, Garderobe und Toiletten investieren zu müssen, um einen gewissen Status Quo zu erfüllen, die kenne ich nur aus Berlin.
Sternerestaurants dieser Stadt, die ungefähr genauso entstanden sind: Das zunächst als Weinbar gestartete Cordo in Mitte. Das Richard in der Köpenicker Straße; eigentlich hat Koch und Gastgeber Hans Richard einmal Bildende Kunst studiert. Das nahöstliche Prism von Gal Ben Moshe (ein Interview mit ihm lest ihr hier) in Charlottenburg. Das Dessert Restaurant Coda (zwei Sterne) von René Frank. Und – natürlich – Billy Wagners brutal lokales Nobelhart & Schmutzig in der Friedrichstraße.
Fine Dining muss auch scheitern können
Und wenn doch einmal ein großer Name scheitert, zuletzt etwa der von den Grill-Royal-Machern Stefan Landwehr und Boris Radczun geführte Pauly Saal –, dann sichert sich eben kein norwegischer Hedge Fond oder ein Fine-Dining-Concept aus Barcelona diese unbedingt beeindruckende Immobilie in der Auguststraße. Sondern Shaul Margulies, der gleich ums Eck neben dem Friedrichstadtpalast bereits das japanische Omakase-Restaurant Zenkichi und den Zimmerpflanzenfrühstücksladen House of Small Wonders betreibt.
Internationale Fine-Dining-Konzepte, die in den vergangenen Jahren in Berlin gescheitert sind: Das Cinco by Paco Pérez im Hotel Das Stue im Tiergarten (Küchenhef Andreas Rehberger koch inzwischen auf einer Burg bei Coburg entschlossen regional). Das Les Solistes by Pierre Gagnaire im Waldorf Astoria am Zoo. Das The Cell in der Uhlandstraße mit dem russischen Sternekoch Evgeny Vikentev. Auch im inzwischen neu aufgestellten The NoName in den Heckmannhöfen legte ein zugereister Tim-Raue-Epigone, der Dortmunder David Kikillus, einen klassischen Fehlstart hin.
Dinner im ehemaligen Drogeriemarkt
„Das ist schon auch dieser trotzige, rotzige Stolz Berlins“, sagt Ilona Scholl, „der gleichzeitig so viele Freiräume schafft.“
Vielleicht aber, sagt Jonathan Kartenberg, Gastgeber im Eins44 und im Irma la Douce, fühlen wir uns auch deshalb in dieser spezifisch berlinerischen Form des feinen Restaurants so wohl, weil diese Stadt eben noch nicht allzu lange eine kulinarische Metropole ist – und es uns deshalb zu Köch:innen und Gastgeber:innen zieht, die diese Unerfahrenheit vermeintlich mit uns teilen. An Orten am besten, die, wie das Horváth am Paul-Lincke-Ufer oder das Tulus Lotrek in der Fichtestraße, bis eben selbst noch eine Kneipe waren. Oder, wie Duc Ngos 893 Ryotei, eine Schlecker-Filiale.
Aus denselben Gründen vermutlich hält sich ja der Mythos so hartnäckig, Tim Raue sei mal ein ganz harter Kreuzberger Junge gewesen.
Dass aber das, indes sehr gastfreundliche, Restaurant Pots im Ritz Carlton am Potsdamer Platz ein „by Dieter Müller“ im Namen trägt, was auf eine mindestens symbolische Partnerschaft mit einem der großen deutschen Drei-Sterne-Köche verweist, dessen Wirkungsstätten vor allem Bergisch-Gladbach und Sylt waren – das mag ältere Hotelgäste bezirzen. Berlin ist sowas ziemlich egal.
- 893 Ryotei Kantstr. 135/136, Charlottenburg, Di–So 18–00 Uhr, Tel. 030/917 03 12 1, www.893ryotei.de
- Coda Friedelstr. 47, Neukölln, Mi–Sa 18–22 Uhr, So 12–17 Uhr, Tel. 030/914 96 39 6, www.cordo.berlin
- Cordo Große Hamburger Str. 32, Mitte, Mi-Sa 18–22 Uhr, So 12–17 Uhr, Tel. 030/275 81 21 5, www.cordo.berlin
- Eins44 Elbestr. 28/29, Neukölln, Di–Sa 18–23 Uhr, Tel. 030/629 81 21 2, www.eins44.com
- Horváth Paul-Lincke-Ufer 44a, Kreuzberg, Di–Sa 18.30–22 Uhr, Tel. 030/612 89 99 2, www.restaurant-horvath.de
- Nobelhart & Schmutzig Friedrichstr. 218, Kreuzberg, Di–Sa 18.30–22.30 Uhr, Tel. 030/259 40 61 0, www.nobelhartundschmutzig.com
- Restaurant Rutz Chausseestr. 8, Mitte, Di–Sa 18-23 Uhr, Tel. 030/246 28 76 0, www.rutz-restaurant.de
- Richard Köpenicker Str. 174, Kreuzberg, Di–Sa 19–00 Uhr, Tel. 030/492 07 24 2, www.restaurant-richard.de
- Tulus Lotrek Fichtestr. 24, Kreuzberg, Do–Mo 18-23 Uhr, Tel. 030/419 56 68 7, www.tuluslotrek.com
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