Zur letzten Instanz ist das älteste Wirtshaus Berlins, durchgehend geöffnet seit 1621. Seit 1621 – damit ist die „Letzte Instanz“ nur wörtlich, nicht aber tatsächlich das letzte, sondern das älteste Restaurant Berlins. Rainer Sperling führte den Familienbetrieb vor der Wende. Vor drei Jahren haben seine Kinder übernommen. Anja und André Sperling haben damit eine gewichtiges kulinarisches Erbe angetreten. Und führen ein Traditionslokal mit überzeugendem Mut zur Zeitgenossenschaft.
Kulinarisches Erbe: Zur letzten Instanz
Die Frau am Nachbartisch vermisst die alte Karte. Die, auf der die Lammbratwurst mit Birne noch „Anwaltsfrühstück“ hieß und das rosa gebratene Coté de Bouef „Justizirrtum“. Die mit den Zeichnungen von Löffel, Gabel, einem Brotzeitteller. Mit den Schnörkeln und der Patina. Nun gäbe es diese Speisekarte aber schon seit zweieinhalb oder drei Jahren nicht mehr, erklärt der Service in freundlichem, zugewandtem Ton.
Aber was sind schon drei Jahre in der Geschichte eines 1621 eröffneten Restaurants, in dem, nicht nur der Legendenbildung nach, bereits Napoleon Bonaparte am Kachelofen gesessen haben soll. Und Jacques Chirac gemeinsam mit Gerhard Schröder. Durchgehende Bewirtschaftung seit mehr als 400 Jahren.
Vielleicht waren es drei entscheidende Jahre. Mindestens aus der Perspektive von André und Anja Sperling, die beide auch schon lang mit der letzten Instanz verbunden sind. Sie wurden in das Wirtshaus hineingeboren. Ihr Vater Rainer Sperling hatte die damalige HO-Gaststätte, deren Namensgebung, „Zur letzten Instanz“, auf das benachbarte Gerichtsgebäude verweist, 1988 übernommen. Sozialismus und Soljanka, eine Gastwirtschaft in der Planwirtschaft, gut 50 Menschen arbeiteten damals in der letzten Instanz. Es gab eine Garderobiere und auch eine Toilettenfrau.
Zeitgenössisch regional
Später, als Berlin noch keine kulinarische Metropole war und auch noch keine der Immobilienspekulation, konnten die Eltern das Gebäude, eigentlich sind es vier Gebäude, erwerben. Ein Glück und eine Bürde für die Geschwister Anja und für André. Er ist gleich nach der Schule Koch geworden, Ausbildung im Hotel Atlantic in Hamburg, Lehr- und Wanderjahre in der gehobenen Schweizer Gastronomie. Sie nahm den Umweg über ein Studium des Modedesigns, um dann doch, im Adlon, das Restaurantfach zu lernen. Sommelier Lucas Haubold ist der Dritte im Bunde.
Vielleicht also waren es drei entscheidende Jahre. Angefangen mit einer Pandemie, der auch eine 400-jährige Wirtshausikone nichts entgegenzusetzen hatte. Vor allem waren da drei junge Gastronom:innen mit Hunger auf eine kulinarische Zeitgenossenschaft, ohne die DNA der letzten Instanz, ohne das Gesellige, Wirtshausige und im guten Sinne Deftige zu ignorieren.
Die Holzvertäfelungen, die gusseiserne Wendeltreppe, das Enge, Geduckte, Gemeinschaftliche: Es ist ja durchaus auch so, dass dieser Gastraum, genauer die Gasträume, bereits einen spezifischen Geschmack vermitteln. Räume wie Rindsrouladen und ein frisch gezapftes Bier.
Deshalb also die neue Speisekarte, auf der die resche Schweinshaxe (24 Euro) noch immer nicht fehlen darf, genauso die vollmundigen, angenehm fleischigen Königsberger Klopse (19 Euro) und die Berliner Leber mit Apfel, Schluppen und einem intensiven Jus. Was aber fehlt, sind die Schnörkel in der Schrift und das Volkstümelnde im Gestus. Mag die letzte Instanz auch noch immer an den Routen eines (internationalen) Berlintourismus liegen, den Gästen der Stadt serviert man lieber die zeitgenössische Interpretation einer regionalen Wirtshausküche als Touristenteller von barocker Opulenz und zweifelhafter Produktprovenienz.
Ob es denn ein Kiez gebe, eine Nachbarschaft, in der sich die letzte Instanz verorten würde? „Historisch ist das hier ja das Herz, der Nabel Berlins“, sagt Anja Sperling, „aber hier wohnt ja eigentlich keiner mehr“. Ihm sei aber schon wichtig, ergänzt André Sperling, nicht mit der anderen Seite des Molkemarkts verwechselt zu werden, mit dem rekonstruierten Nikolaiviertel, in dem die Berliner Küche zumeist genauso falsch und wenig handwerklich sei wie die imitierten Fassaden des mittelalterlichen Berlins.
Zur letzten Instanz: Die Saucen schmecken tief, nicht breit
André Sperling traut sich was. Ein cremiges Ragout aus Rinderherzwürfeln beispielsweise. Oder Hechtklößchen mit Saiblingskaviar. Das Gemüse ist bissfest, die Saucen schmecken tief, nicht breit. Die Rote Grütze ist einfach eine sehr gute Rote Grütze, nicht zu süß, nicht zu sauer, nicht zu geliert.
Und zur schmelzigen Hühnerleberpaté samt hausgebackener Brioche (10 Euro) gibt es Gepickeltes aus dem funky Restauranthotel Taubenkobel am Neusiedler See. Die dortige Küche war für ein Pop-up in der neuen Weinbar Nomi in Kreuzberg, die die Lebensgefährtin von André Sperling betreibt. Also hat man sich die Küche der letzten Instanz geteilt und noch einmal besser verstanden, dass es für einen aufrechten Umgang mit dem kulinarischen Erbe immer auch den Willen zur Zeitgenossenschaft braucht.
Zur letzten Instanz ist das älteste zeitgenössische Restaurant der Stadt. Und weil in dieser Gleichung noch die Zukunft fehlt: Bald hat auch der kleine, kopfsteinpflastercharmante Gastgarten wieder geöffnet.
- Zur Letzten Instanz Waisenstraße 14–16, Mitte, Mo+Di, Do–Sa 12–15 Uhr und 17.30–23 Uhr, Tel. 030/242 55 28, online
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