Jörg Reuter betreibt in der Invalidenstraße den handwerklichen und längst nicht nur radikal regionalen Lebensmittelladen „Vom Einfachen das Gute“. Vor allem aber berät mit seinem Denklabor „Grüneköpfe“ kleine und ganz große Lebensmittelunternehmen. Dafür hatte er vor einigen Jahren ein sogenanntes „Bedürfnismodell“ entwickelt, in das sich alle soziopolitischen oder lebensstilästhetischen Trends rund um unsere Ernährung abbilden liessen. Bis zur Corona-Krise. Ein Gespräch über Greta-Effekte, die Dimensionen des Regionalen und die Hühner hinterm Haus.
Jörg Reuter, Sie denken hauptberuflich über das Essen nach. Finden Sie gerade überhaupt noch klare Gedanken?
Zunehmend wieder. Ich hab mir jetzt auf dem Desktop einen Ordner mit dem Namen „Post-Corona-Szenerien“ angelegt und versuche meine Gedanken zu sammeln. Was nachhaltige, gesunde auch regionale Ernährung angeht, kamen wir ja gerade von einem Allzeithoch. Da war ein Greta-Effekt tatsächlich spürbar. Wir hatten bei uns im Laden beispielsweise den besten Januar und Februar in seiner Geschichte, mit Abstand. Die Leute haben bewusst eingekauft und das sowohl aus einer von mit aus hedonistischen Lust, als auch aus einem politisch-ökologischen Bewusstsein heraus. Ist das jetzt alles weg? Ich glaube und ich hoffe nicht. Es wird aber sicher davon abhängen, wie lange diese Krise dauert.
Was wären dann die Szenarien?
Dauert die Krise kurz, aber das wird sie ja schon nicht mehr, machen alle weiter wie zuvor. Nach sechs oder acht Wochen werden wir ausgehungert in die Restaurants rennen, es könnte einen geradezu überschwänglichen Sommer geben. Geht der Ausnahmezustand noch länger, dann wird, verkürzt gesagt, Aldi der große Gewinner. Dann siegt die Angst.
Angst ist nun kein sonderlich nachhaltiger Berater.
Das wäre tatsächlich ein mögliches Szenario: Nachhaltigkeit wird bedeutungslos, es geht ums pure Überleben. Was interessiert, ist nicht mehr ob die Verpackung nachhaltig ist, sondern dass sie uns schützt. Sharing ist am Ende. Empathie für die Probleme anderer auch. Ein anderes Szenario wäre aber: Alles wird nachhaltig: Wir erkennen Corona als Chance ein ganzes Wirtschaftssystem zu hinterfragen. Postwachstum, Anti-Globaliserung und ein neuer Humanismus treiben uns an. Nun wird keines dieser Szenarien absolut eintreten. Es zeigt aber, dass ein und die selbe Ausgangssituation zu ganz unterschiedlichen Reaktionen und Verhaltensmustern führen kann.
Kommt der Rückzug ins Regionale? Ein Bio-Biedermeier?
Klares Ja. Die Leute suchen und brauchen diese Beziehungsnähe. Aber auch das kann und wird sich ja wieder ganz unterschiedlich äußern. Werden die Leute weiterhin und sogar vermehrt auf saisonal-regionale Erzeugnisse von besonders nachhaltig arbeitenden Höfen und Produzenten achten und dafür auch gerne etwas mehr ausgeben? Wächst die Sehnsucht nach einer neuen Unmittelbarkeit, nach dem eigenen Schrebergarten, der eigenen Ernte, dem Engagement in einer Solidarischen Landwirtschaft? Wird es also wieder viel normaler, selbst zu Backen, zu Fermentieren, Einzuwecken? Oder wächst die dumpfe, unproduktive Angst vor allem Neuen, Fremden, Unbekannten?
Im hier skizzierten Widerstreit vom Vorwärts- und Rückwärtsgewandten müssen wir zwangsläufig auch über die Digitalisierung der Lebensmittelbranche reden.
Unbedingt. Hier sehe ich durch Corona mittelfristig sogar die stärksten Veränderungen. Digitalisierung war in den letzten Jahren oft ein geisterhafter Begriff. Allen war klar, das das Thema irgendwie wichtig ist. Spätestens, wenn es ums Essen ging, wurde dann aber immer mit der Emotionalität und der physischen Erfahrung eines Einkaufs auf dem Wochenmarkt argumentiert. Die meisten Onlineshops haben noch immer die Sexyness eines pdf-Dokuments. Das ändert sich gerade radikal. Digitalisierung erfährt eine neue Akzeptanz im Alltag und eine völlig neue Wertschätzung. Träge Lehrer haben es geschafft innerhalb weniger Tage ein System aufzubauen, dass die Kinder zuhause vor den Rechnern sitzen und von 7.50 bis 14.00 straffen Schulunterricht haben. Und bei uns schaut am Nachmittag auch die Klavierlehrerin digital vorbei. Diese neue digitale Selbstverständlichkeit wird auch den Lebensmittelhandel verändern.
Alles wird also noch abstrakter, noch anonymer?
Jein. Zum einen werden auch solch digitale Konzepte, mindestens im anspruchsvollen Segment, nur funktionieren, wenn sie eine Nähe zu den Konsument*innen aufbauen, wenn sie nachvollziehbar und erlebbar werden. Zudem hilft uns diese Rationalität, um wieder Zeit und Ressourcen für radikal analoge Tätigkeiten zu haben. Ich backe aktuell jeden zweiten Tag ein Brot, wir versuchen überhaupt gerade viel selbst zu kochen und auch die Kinder darin einzubinden. Und: Wir haben unsere einjährige Hühnerpause beendet und uns neue Küken geholt. Das müssen, im Großen gesprochen, auch die großen und kleinen Akteure der nachhaltigen Lebensmittelwirtschaft begreifen, dass die Digitalität wirklich nicht ihr Feind ist.
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