In russland** leben Menschen aus 185 verschiedenen ethnischen Gruppen. Trotzdem gilt das Land, gerade im Westen, nach wie vor als „weiß“. Obwohl ethnische Minderheiten in der Geschichte russlands gewaltsam unterdrückt wurden und von ethnischen Säuberungen bis hin zum Genozid betroffen waren, wird Kolonialismus nicht nur vom russischen Regime, sondern auch von großen Teilen der Opposition im Land häufig als westlicher Import gesehen. An die Stelle einer Aufarbeitung der russischen Kolonialgeschichte tritt die Erzählung russlands als antikolonialer und antiimperialistischer Macht, die seit dem Überfall russlands auf die Ukraine auch zentraler Bestandteil der Kriegspropaganda ist.
Die Ausstellung Өмә ([ome]; baschkirisch für „kollektive Selbsthilfepraktiken“) der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien macht deutlich, dass der aktuelle Krieg gegen die Ukraine wie auch die Annexion der Krim 2014 nicht isoliert von der Geschichte russlands betrachtet werden können, sondern die Fortsetzung einer historischen Kontinuität des russischen Imperialismus darstellen. Da es ethisch und politisch unangemessen wäre, Arbeiten von Künstler_innen aus russland und der Ukraine in derselben Ausstellung zu zeigen, wird es im Rahmen des Begleitprogramms Veranstaltungen geben, die dem ukrainischen antikolonialen Widerstand gewidmet sind, während die Ausstellung dem antikolonialen Widerstand innerhalb russlands mehr Platz einräumt.
Dazu versammelt die Ausstellung rund dreißig künstlerische Position von Indigenen sowie multiethnischer und migrantischer Künstler_innen die in russland leb(t)en. Sie zeichnen das Bild russlands als Kolonialmacht, die sich nur durch Vertreibung, Zwangsassimilierung, Christianisierung, Russifizierung und Extraktivismus innerhalb ihrer heutigen Grenzen konstituieren konnte.
Da das Bild eines weißen russlands nicht nur vom Regime, sondern auch von der – ebenfalls mehrheitlich weißen – russischen Opposition aufrechterhalten wird, konnten sich dekoloniale Bewegungen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden, nie durchsetzen. Nicht zuletzt deshalb möchte Өмә antihegemonialen Theirstories Gehör verschaffen und mit Methoden der Autoethnografie sowie durch die Aktivierung von Archiven ein komplexeres Russlandbild schaffen. Damit positioniert sich die Ausstellung im historischen und politischen Kontext andauernder kolonialer Expansion und Gewalt.
nGbK-Arbeitsgruppe: FATA collective
Ein Projekt der nGbK in Kooperation mit dem Kunstraum Kreuzberg/Bethanien.
Die neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) wird gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
** Mit dem Verzicht auf Großschreibung des Wortes russland drücken die Kurator_innen der Ausstellung ihre Solidarität mit den Menschen in der Ukraine aus.
03.05.2023 - 15:24 Uhr
Ausstellung/Andere Orte