Das Konzept dieses Projekts geht auf den Titel einer von Katherine McKittrick herausgegebenen Sammlung von Werken der jamaikanischen feministischen Schriftstellerin und Kulturtheoretikerin Sylvia Wynter zurück. Ich finde Wynters tiefe und kritische Einsichten, die beschreiben, wie Herkunft, Geographie und Zeit zusammen darüber Auskunft geben, was es bedeutet, Mensch zu sein, absolut inspirierend.
Nach Gesprächen mit dem ehemaligen Leiter der Donaueschinger Musiktage Björn Gottstein im Jahr 2017 wurde mir klar: Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln und mein Verständnis des Gedankengebäudes in Wynter’s Werk bei der 2020er-Ausgabe des Festivals zu präsentieren. 2017 wusste noch niemand, dass zwei Jahre später eine globale Pandemie die Welt zum Stillstand bringen, uns in Schweigen hüllen, unsere Sinne schärfen und uns wieder mit unserer Menschlichkeit verbinden würde.
Meine Arbeit kreist um Begegnung, Teilhabe und Darstellung, sei es körperlich, emotional, politisch oder spirituell, und sie ist immer der Versuch, diese Erfahrung für Performer*innen und die Zuschauenden zu einer Synthese zu bringen. Für mich war es auch von entscheidender Bedeutung, ein Werk zu präsentieren, das die breite Öffentlichkeit der neuen Musik im 21. Jahrhundert widerspiegelt. Deshalb habe ich fünf Komponist*innen mit afrikanischem und europäischem Background eingeladen, Werke zu komponieren, die von Wynters Texten und Ideen inspiriert sind, und die von mir und dem Ensemble MAM.manufaktur für aktuelle musik aufgeführt werden. Jedes dieser Werke stellt Fragen: über die Bedeutung des Menschseins; über den Wettstreit zwischen den westlichen Vorstellungen von „Mensch“ vs. „menschlich“; über den Einfluss dieses Wettstreits auf die strukturelle Ungerechtigkeit in unserer Welt. Die Komponist*innen haben darauf reagiert, indem sie vielschichtige Werke komponiert haben, die zahlreiche kreative und intellektuelle Ausdrucksformen umfassen: Hoffnung, Schmerz, Freude ...
Um eine einstündige Aufführung zu konzipieren, bei der sowohl ich als auch das Ensemble im Raum agieren würden, zog ich meinen langjährigen Mitstreiter hinzu, den vietnamesisch-amerikanischen Choreografen und Regisseur Dam Van Huynh. Gemeinsam mit zwei Mitgliedern seiner Tanzkompanie hat er den Raum geschaffen und geformt – was ich als die Funktionsweise des Stückes ansehe – und so in Verbindung mit meinen Vokalimprovisationen ermöglicht, die verschiedenen Teile des Werkes zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen.
Unsere Gruppe hat auf Wynters verblüffende Rekonzeptualisierung des Menschlichen und ihre Versuche, das Menschliche als Praxis zu rehistorisieren, kreativ reagiert. Die Tötung von George Floyd, die weltweite Demonstrationen zur Unterstützung von Black Lives Matter in Gang setzte, der Klimaaktivismus sowie die Demonstrationen für soziale Gerechtigkeit machten das Werk noch aktueller. Die musikalische Erforschung des Menschseins kann auch als eine Freilegung des Selbst erlebt werden, indem wir unsere Masken (die in unserer (Post?-)Covid-19-Welt existentiell und real sind) abnehmen und unsere Verwundbarkeiten und Stärken offenlegen: um sie zurückzunehmen, wiederherzustellen, zu erneuern und wieder ins Gleichgewicht zu bringen. – Elaine Mitchener
„Menschliche Wesen sind magisch. Bios und Logos. Worte machen Fleisch, Muskeln und Knochen, animiert von Hoffnung und Verlangen, Glauben materialisiert als Taten, Taten, die unsere Aktualitäten kristallisieren. [...] Und die Karten der Quelle müssen immer neu gezeichnet werden, in ungewagten Formen.“ (Sylvia Winter, 1995: 35, in Anlehnung an Aimé Césaire)
29.03.2023 - 15:59 Uhr
Bühne/Schauspiel