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30 Jahre Wiedervereinigung

Festspiele-Chef Oberender über Wiedervereinigung: 1990 war „Jahr der Utopien“

„Als nächstes möchte ich aus dem ICC einen Palast der Republik machen“, sagt Thomas Oberender, Chef der Berliner Festspiele. In seinem neuen Buch fordert er ein „Empowerment Ost“. Was genau meint er damit?

Wir sprachen mit ihm über ostdeutsche Klischees, das „Jahr der Utopien 1990“ und die Gemeinsamkeiten mit Fridays for Future uns betreutes Wiedervereinen: „Wir sind nicht gleich“.

Das Gespräch führte tipBerlin-Redakteur Erik Heier.

„Immersions“-Reihe im Haus der Berliner Festspiele 2019, Haus der Berliner Festspiele mit Fassade vom Palast der Republik. Foto: Mathias Völzke

tipBerlin Herr Oberender, fast am Ende des Buchs steht: „Vielleicht kommt die nächste Generation von Gaia, vielleicht spricht sie mit uns durch Viren…“ Sehr prophetisch!

Thomas Oberender (lacht) Ich bin ein großer Fan von Lovelock (James Lovelock entwickelte gemeinsam mit Lynn Margulis Mitte der 70er Jahre die „Gaia-Hypothese“, in der die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden; Anm. d. Red.) und Bruno Latour. Manchmal kommen Veränderungen aus sehr unerwarteter Richtung. Das ist gerade mit dem Corona-Virus der Fall.

tipBerlin Ihr Buch basiert auf einem Vortrag in Athen im Juli 2019. Sie wollten rückblickend nie Ostdeutscher sein, weder in der DDR noch danach. Wann hat sich das geändert?

Thomas Oberender Das hat mit dem Entstehen der AfD zu tun. Und der Zuspitzung ostdeutscher Klischees – nachdem wir 25 Jahre gerackert hatten, uns zu assimilieren: Wir sind wie ihr, wir sind auch fleißig, Demokratie ist nicht so schwer, wir haben’s gelernt. All das machten die Erfolge der AfD im Osten zunichte und festigten ein Bild der Ostdeutschen als Abendschüler der Demokratie, als Demokratieversager. Der Erfolg der AfD hat aber nicht nur seine Ursache in der DDR-Geschichte, sondern auch der Geschichte der Wiedervereinigung. Und davon erzähle ich in dem Buch.

Festspiele-Chef Oberender: Maginalisierung der Ost-Geschichtserfahrung

tipBerlinSie sind in Jena geboren. Ihre Erwerbsbiografie spielte sich aber nicht im Osten ab: Bochum, Zürich, Salzburg, Wilmersdorf.

Thomas Oberender Ich will mich individuell auf dieses Ost-Thema nicht verhaften lassen. Aber mein Werdegang macht halt auch sensibel und die Marginalisierung der anderen Geschichtserfahrung von 16 Millionen Menschen prägt unsere Gesellschaft leider sehr stark.

Thomas Oberender ist seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele. Geboren 1964 in Jena, studierte er Theaterwissenschaft und Szenisches Schreiben in Berlin. War u.a. Leitender Dramaturg am Schauspielhaus Bochum und leitete das Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele.  Foto: Christoph Neumann
Thomas Oberender ist seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele. Geboren 1964 in Jena, studierte er Theaterwissenschaft und Szenisches Schreiben in Berlin. War u.a. Leitender Dramaturg am Schauspielhaus Bochum und leitete das Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele. Foto: Christoph Neumann

tipBerlin Vor knapp drei Jahren schrieben Sie in einem „Zeit“-Essay: „… vielleicht wurden die Deutschen durch nichts mehr getrennt als durch die Öffnung der Mauer.“

Thomas Oberender Jetzt spreche ich doch mal als Teil einer Gruppe. Wir Ostdeutsche sind 20, 25 Jahre betreut worden von Menschen, die oft in großer Zugewandtheit davon ausgingen, dass nur wir von ihnen etwas zu lernen haben.

tipBerlin Betreutes Vereinigen sozusagen.

Thomas Oberender Genau. Zum einen ist das Lernen ein relativ einseitiger Vorgang: Holt mal nach, irgendwann seid ihr soweit! Das andere ist, dass wir zum Teil viel progressivere, experimentelle Erfahrungen in dieser Interimszeit 1989/90 gesammelt haben, die mit gesellschaftlichem Wandel, Neudenken, Adaptionsfähigkeit und anderen Arten von Machtstrukturen verbunden waren, als jene im Westen erprobten, die dann unsere wurden.

1990: Eine vom Volk einberufene Generaldebatte

tipBerlin Sie wollen an die „aktive Seite dieser Revolution“ von 1989/90 „erinnern, die utopische, verwirrte, frohe“.

Thomas Oberender Ich möchte mit meinen Freunden und Kollegen dafür sorgen, dass jener Modernisierungsschub unseres Bewusstseins und unserer sozialen und politischen Verhaltensweisen heute einen viel stärkeren Ausdruck erhält. Der weist rückblickend viel stärker in die Zukunft als das, was nach 1990 im Osten kam. Diesen Moment einer vom Volk einberufenen Generaldebatte hoch zu halten, das habe ich von Klaus Wolfram gelernt.

tipBerlin Einer der Mitbegründer vom Neuen Forum.

Thomas Oberender Seine tolle Rede vor der Akademie der Künste West ist ein Manifest! Er analysiert die Wende mit einem ostdeutschen Selbstbewusstsein und erinnert an ihr basisdemokratisches Potential: Wie könnten wir das Ganze anders machen? Dieser Systemcheck ist eine Parallele, die ich jetzt zu Corona sehe. Wow, das ist das eigentliche Virus, das Corona hinterlässt! Dass wir auf einmal das Betriebssystem hinterfragen. Wieso wird in den Schlachthöfen so gearbeitet? Welchen Prämissen folgt unser Gesundheitssystem?

tipBerlin Und wir denken über Verstaatlichungen nach, als wäre Kevin Kühnert Kanzler.

Thomas Oberender 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es nun eine Generation, die fragt: Was war denn damals wirklich los, was ist hilfreich für jetzt?

Die erste Generation, die den Osten nicht mehr als Beispiel des Scheiterns betrachtet

tipBerlin Mit dieser Generation beginnt für Sie jetzt erst die wirkliche Wiedervereinigung?

Thomas Oberender Es sind die ersten, die den Osten nicht mehr nur als Beispiel des Scheiterns betrachten.

tipBerlin Die gucken aber auf den Osten über die Reflexion der Nachwende-Erfahrungen ihrer Eltern. Und über deren Schweigen.

Thomas Oberender Von diesem Trauma wird kaum gesprochen. Das war halt so. Wir sollten das heilen, was nichts mit Geld zu tun hat, sondern mit Achtung und Aufmerksamkeit. Deshalb haben wir bei den Festspielen letztes Jahr den „Palast der Republik“ wieder aufgemacht – schon im März, bevor der ganze Mauerfall-Jubiläums-Jubel losging. Ich wollte einen Ton setzen: 1989 war ein Aufbruch mit Utopien, zum Beispiel auch mit einem neuen Verfassungsentwurf!

tipBerlin Im Rahmen der Reihe „Immersion“ haben Sie das Haus der Festspiele als Palast der Republik verkleiden lassen, aber das DDR-Emblem weggelassen.

Thomas Oberender Ja, natürlich ohne Ostalgie. Wir haben den 90er-Palast gecovert. Im Blick zurück nach vorn schauen – das war der Impuls.

Warum „Fall der Mauer“ für Oberender eine „Sprache der Sieger“ ist

tipBerlin Bei den Lichtinstallationen zum 30. Mauerfall-Jubiläum wurde der Palast dann auf Franco Stellas Schlossfassade projiziert. Wollen Sie den eigentlich zurückhaben?

Thomas Oberender Nö. Aber ich möchte als Nächstes gern aus dem ICC einen Palast der Republik machen. Das war ja der Palast der Träume des Westens. Der Abriss hat den Ost-Palast unsterblich gemacht.

tipBerlin Warum ist für Sie der Begriff „Fall der Mauer“ die Sprache der Sieger?

Thomas Oberender „Fall“ ist passiv. Als ob die Mauer umfiel, weil sie marode war. Nein, da wurde ordentlich Druck gemacht, im Osten, in ganz Osteuropa. Die westliche Sichtweise hat sich aber über 30 Jahre in den Köpfen festgesetzt: Als seien die Leute auf die Straße gegangen, weil sie Wiedervereinigung und D-Mark wollten. Und dann, ups, ging die Mauer auf und alle haben geweint und kriegten Bananen.

tipBerlin Und 100 D-Mark Begrüßungsgeld!

Thomas Oberender Natürlich! Nur so war es halt nicht. Wer von der Geschichte heute übrig bleibt, ist Helmut Kohl, nicht Bärbel Bohley, Christian Führer, Klaus Wolfram oder auch Hans Modrow. Deshalb brauchen wir ab und an einen „Palast der Republik“: bis es zum Beispiel auch mal ostdeutsche Rektoren an ostdeutschen Universitäten gibt. Man muss dieser falschen „Normalität“ einen Bruch versetzen, damit diese Zurücksetzungen sichtbar werden.

Von der Wende bis zu Fridays for Future

Thomas Oberender Sie zitieren die Künstlerin Elske Rosenfeld, dass 1989 die erste Revolution des 21. Jahrhunderts gewesen sei, und ziehen Linien von 1989 zum Arabischen Frühling, zu den Gezi-Protesten in Istanbul, zu Occupy Wall Street, zu Fridays for Future.

tipBerlin Elske Rosenfeld zitiert selbst einen iranischen Autor, Mahmood Delkhasteh, der den Beginn der iranischen Revolution als Urmodell beschreibt: Es gab keine revolutionäre Klasse, kein Programm, kein Ziel der Machtübernahme. Stattdessen setzte der massenhafte öffentliche Protest die Macht des Systems außer Kraft und gab alternativen Ideen und Akteuren Raum. In dieser Ungewissheitszone suchten und fanden die Aktivisten eine neue Sprache und Strukturen der Entscheidungsfindung. Das kann man bei Occupy Wall Street sehr gut sehen. Auch bei der 1989er Revolution. Es geht genau nicht darum, das System von innen zu übernehmen, sondern ein neues System zu schaffen.

tipBerlin Eine Revolution, die die Macht nicht übernimmt, verliert sie irgendwann.

Thomas Oberender Ist ja auch passiert. Ich glaube aber, dass Bewegungen wie #MeToo unsere Gesellschaft letztlich mehr verändert haben als viele Regierungsentscheidungen. Fridays for Future oder Extinction Rebellion haben mehr systemische Gewalt entwickelt als jede Partei. Ich will mich bezüglich 1989 auch nicht der Legende des Scheiterns anschließen. Es geht darum, das Pflaster von der Wunde abzuziehen, sie anzuschauen und statt einen neuen Verband darauf zu legen die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Das meint Empowerment Ost.

Zusammen wachsen statt zusammenwachsen

tipBerlin Empowerment ist das Wort der Stunde. Female, black, antikoloniales Empowerment. Jetzt Empowerment Ost. Sollten wir Empowerment nicht zusammendenken, anstatt es immer weiter aufzusplitten?

Thomas Oberender Wir sind nicht gleich. Wir sind anders, haben eine andere Geschichte, andere Schmerzpunkte, andere Erfahrungen des Gelingens, andere Knoten in unseren sozialen Netzwerken. Warum sollte das zusammenwachsen? Wir sollten zusammen wachsen.

tipBerlin Wie begehen Sie den 30. Einheitstag am 3. Oktober?

Thomas Oberender Privat habe ich den 3. Oktober noch nie gefeiert, emotional sind für mich andere Daten besetzt, an denen feiere ich nicht, da erinnere ich mich.

Cover "Empowerment Ost" von Thomas Oberender. Foto: Klett-Cotta
Cover „Empowerment Ost“ von Thomas Oberender. Foto: Klett-Cotta
  • Empowerment Ost. Wie wir zusammenwachsen von Thomas Oberender, Klett-Cotta, 112 Seiten, 12 €

Mehr Ost vs. West in Berlin:

Wie fühlte es sich eigentlich an, in einer geteilten Stadt aufzuwachsen? Unsere 12 Fotos aus den 1950er- bis in die 1980er-Jahren geben einen Eindruck von der Kindheit in Berlin. Und wie sah es aus reiner West-Perspektive aus? Ihr lebt schon immer oder zumindest seit einer halben Ewigkeit in Berlin? Diese 12 Dinge kennt jeder, der im West-Berlin der 1980er gelebt hat. Und wenn ihr wissen wollt, wie es von der östlichen Seite der Mauer aus aussah, haben wir hier Bilder der Jugend in Ost-Berlin: FDJ, Punks und Gruftis – 12 Fotos aus den 1980er-Jahren.

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