Neu im Kino

Filmstarts der Woche: „Gunda“, „Promising Young Woman“ und mehr

Gleich drei Filme finden die Filmkritiker:innen des tipBerlin diese Woche herausragend: Victor Kossakovsky liefert mit dem Dokumentarfilm „Gunda“ Argumente für alle Vegetarier; Carey Mulligan spielt die Hauptrolle in dem Thriller „Promising Young Woman“; und aus Polen kommt „Der Masseur“, ein Kunstfilm von Malgorzata Szumowska und Michal Englert; dazu kommen weitere sehr sehenswerte neue Film: das iranische Politdrama „Doch das Böse gibt es nicht“, der Musikfilm „Shane“ von Julien Temple und eine spannende Naturdoku aus Ladakh: „Chaddr“.


Gunda

„Gunda“ von Victor Kossakovsky. Bild: Filmwelt

DOKUMENTARFILM Wer heute an Nutztierhaltung denkt, hat wohl schon längst keine Bilder mehr von glücklich über die Wiese galoppierenden Kühen, sich wohlig in einer Suhle einsauenden Schweinen oder sorgsam im Boden scharrenden Hühner im Kopf. Stattdessen denken wir an Legebatterien und Tierknast mit von irgendwelchen EU-Bürokraten errechneten Mindestabständen, in denen die Tiere bis zu ihrem frühen Ende als Keule oder Schnitzel niemals die Sonne sehen. Es wäre für den russischen Essaydokumentaristen Victor Kossakovsky vermutlich ein Leichtes gewesen, genau diese Vorstellungen zu bedienen und einen Horrorfilm über Massentierhaltung zu machen.

Doch „Gunda“ ist das genaue Gegenteil. Auf Farmen und in Tierrefugien in Norwegen, Großbritannien und Spanien in Schwarzweiß gedreht, präsentiert Kossakovsky die wichtigsten Nutztiere des Menschen so, wie sie eigentlich leben müssten –  und würden, wenn man sie denn ließe. Eine Sau und ihre Ferkel, ein paar Hühner, unter ihnen eines, das auch mit nur einem Bein gut klarkommt, und eine kleine Rinderherde sind die Protagonist:innen dieses Films, der ohne Kommentar, Interviews und weiterführende Informationen auskommt und einfach mit seinen Bilderwelten besticht. 

Egal, ob Schweine in einer endlos erscheinenden Landschaft ruhen, Hühner ihre Füße unglaublich achtsam auf richtigem Erdboden aufsetzen oder die Kamera Kuhköpfe zu umschmeicheln scheint – Kossakovky zeigt die Tiere als Individuen, gibt ihnen jenen Respekt, den sie verdienen, und bringt sie uns damit nahe: „Gunda“ ist ein gedankliches und ästhetisches Gegenkonstrukt zur bedauerlichen Realität. Lars Penning

N/USA/GB 2020, 93 Min., R: Victor Kossakovsky, Start: 19.8.


Promising Young Woman

„Promising Young Woman“ von Emerald Fennell. Bild: Universal

THRILLER Nicht zufällig heißt die Protagonistin in Emerald Fennels Spielfilmerstling Promising Young Woman Cassie, kurz für Cassandra, verweist das doch die tragische Seherin in der griechischen Mythologie: Wegen ihrer Schönheit wurde Kassandra von Apollo die Gabe der Weissagung verliehen, doch Kassandra wies den Gott zurück, weshalb der eine Zusatzklausel erfand: Niemand solle ihr glauben. Und so prophezeite Kassandra viel Wahres, das ungehört blieb und wurde schließlich vergewaltigt und erdolcht. Die Rache des netten Apollo, des Gottes der Künste und der Reinheit, war perfide.

Genau auf solche „Nice Guys“ hat es Cassie (fantastisch: Carey Mulligan) abgesehen. Einmal wöchentlich geht sie in anderer Verkleidung in einen Club, um als scheinbar Betrunkene die Doppelmoral der netten Typen zu entlarven, die erst hilfsbereit tun, dann aber Cassies vermeintlich bewusstlosen Zustand ausnutzen möchten. Doch die wöchentliche Spielerei ist nur Zeitvertreib. Als Cassie einem ehemaligen Studienkollegen begegnet, findet sie zu ihrer eigentlichen Mission zurück: Jetzt soll es endlich diejenigen treffen, die während ihrer Collegezeit an der Vergewaltigung ihrer Freundin Nina und an deren Vertuschung beteiligt waren.

Die vielversprechende junge Frau plant ihren Rachefeldzug mit der To-Do-Liste. Auch die Regisseurin, die auch das Oscar-prämierte Drehbuch geschrieben hat, dürfte eine solche Liste geführt haben, denn Promising Young Woman rechnet systematisch mit sämtlichen Figurentypen der Filmgeschichte der letzten 40 Jahre ab: Der Nice Guy, das Manic Pixie Dream Girl, das Bitchy Girlfriend und der Best Buddy – sie alle bekommen als aktive und passive Stützen der Rape Culture ihr Fett weg. Inszeniert ist die Neuinterpretation des Rape Revenge Thrillers wendungsreich und mit viel Freude an der Ausstattung. Getragen von einem grandiosen Ensemble, das vorrangig aus populären Serien bekannt ist und einem poppigen Soundtrack ist Promising Young Woman nicht nur ein kluges, sondern auch ein mitreißendes Kinoerlebnis. Valerie Dirk

USA 2020; 114 Min.; R: Emerald Fennell; D: Carey Mulligan, Bo Burnham, Laverne Cox; Kinostart: 19.8.


Der Masseur – Never Gonna Snow Again

„Der Masseur“ von Malgorzata Szumowska und Michal Englert. Bild: Real Fiction

DRAMÖDIE In einer neobiedermeierlichen Neubausiedlung außerhalb von Warschau geht der ukrainische Masseur Zhenia von Haus zu Haus, und sorgt mit magischen Händen für visionäre Momente. Malgorzata Szumowska hat gemeinsam mit ihrem langjährigen Kameramann Michal Englert einen Film über das neue Polen gemacht, der nicht zuletzt ästhetisch ein Ereignis ist. Bert Rebhandl

Polen 2020; 113 Min.; R: Malgorzata Szumowska & Michal Englert; D: Alec Utgoff, Maja Ostaszewska, Agata Kulesza; Kinostart: 19.8.

Die ausführliche tipBerlin-Filmkritik zu „Der Masseur“ haben wir hier


Doch das Böse gibt es nicht

„Doch das Böse gibt es nicht“ von Mohammad Rasoulof. Bild: Grandfilm

DRAMA „Deine Macht liegt im Nein-Sagen“ rät eine ältere Frau einmal einem jungen Soldaten, der mit seiner Militärzeit hadert. Zumal es während dieser 21 Monate vorkommen kann, dass man für eine Hinrichtung zur Verfügung stehen muss: Einübung in das Gehorchenlernen, die Unterordnung unter ein System der Gewalt. Nicht zuletzt bekommt man eine Arbeit und einen Reisepass erst nach Ableistung des Militärdienstes – die Behörden wissen schon, womit sie junge Männer gefügig machen können.

„A Man of Integrity“ lautete der Titel des vorangegangenen Films von Mohammad Rasoulof, in dem sein Protagonist an korrupten Beamten scheiterte. Um Integrität geht es auch diesmal: in vier Episoden wird von Entscheidungen erzählt, die junge Männer vor große Belastungen stellen, die einen alten Mann noch zwei Jahrzehnte später heimsuchen und für einen anderen Auswirkungen auf seinen Alltag haben. Von ihm erzählt die erste Geschichte, die mit einem Schock endet, der eindringlich den Tonfall für den Rest des Films vorgibt, auch wenn das Ende der nachfolgenden Episode, die als Thriller-Kammerspiel funktioniert, mit dem Singen des italienischen (Partisanen-) Liedes „Bella Ciao“ zumindest ein momentanes Aufatmen markiert.

Wie sein Kollege Jafar Panahi (der im Iran seinen Beruf ebenfalls nur mit List ausüben kann) in seinem letzten Film „Drei Gesichter“ bewegt sich auch Rasoulof mit den letzten beiden Episoden aus Teheran fort in entlegene Landstriche, deren Schönheit als Kontrast zu staatlicher Bevormundung funktioniert. Aber auch dort erweist sich die Idylle als zerbrechlich. Was dem Film in jeder Episode (am Ende kunstvoll verknüpft durch familiäre Bande), gelingt: den Zuschauer auf unterschiedliche Weise vom außen stehenden Betrachter zu einem Teil des Problems zu machen. Frank Arnold

Sheytan vojud nadarad (OT); Iran/D 2020; R: Mohammad Rasoulof; D: Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar; Kinostart: 19.8.


Shane

„Shane“ von Julien Temple. Bild: Neuen Visionen

PORTRÄT Eine Musikdokumentation von Julien Temple erkennt man sofort: Rund um aktuelle und historische Interviews mit seinen Protagonisten webt er ein dichtes Netz an Bildmaterial aus Dokumentar- und Spielfilmausschnitten, Animationen und nachinszenierten Szenen, in denen es weniger um Nachstellen von Ereignissen als um das Erzeugen von Stimmungen geht. Was seinen Dokumentationen immer einen Hauch von Spielfilm verleiht, so dass auch Shane MacGowans unwidersprochenes Stricken am eigenen Mythos hier nicht fehl am Platz wirkt.

Mit MacGowan, ehemals Leadsänger der Band The Pogues, hat sich Temple einmal mehr einen Protagonisten der frühen britischen Punkszene gesucht, der auch er selbst als Filmemacher entstammt (er drehte unter anderem das Video zur Sex-Pistols-Single „God Save the Queen“). Zwar hinterließ MacGowan, Sohn irischer Eltern, mit der Band The Nipple Erectors damals noch keinen tiefgreifenden Eindruck, doch als er in den 80er-Jahren The Pogues gründete, verbanden er und seine Mitstreiter:innen die traditionelle irische Folkmusik mit der Energie des Punk und schufen damit zeitgenössische Londoner Großstadtmusik.   

Heute ist der „Retter des irischen Folk“, der in seinen Liedern unter anderem literarischen Anspruch, Katholizismus, Atheismus, irischen Nationalismus und Karl Marx miteinander verband, durch jahrzehntelangen Alkohol- und Drogenmissbrauch (sowie durch einen Unfall, der ihn an den Rollstuhl fesselt) schwer gezeichnet. Ob der 63-Jährige noch einmal zurückkommen kann? Er selbst glaubt fest daran. Lars Penning

Crock of Gold: A Few Rounds with Shane MacGowan (OT); USA/GB/IRE 2021; 124 Min.; R: Julien Temple; Kinostart: 19.8.


Chaddr – Unter uns der Fluss

„Chaddr – Unter uns der Fluss“ von Minsu Park. Bild: Film Kino Text

DOKUMENTARFILM 206 Kilometer lang ist die Straße von Leh, einer der höchstgelegenen Städte der Erde im indischen Ladakh, nach Sangla, einem kleinen Dorf, das auf 4000 Metern Meereshöhe liegt. Tsangyang Tenzin stammt von dort. Ihre Eltern leben von der Landwirtschaft, sie haben zwei Felder, die Mutter webt Teppiche, der Vater unterrichtet auch noch an der Grundschule. Seit im Winter der Schnee immer öfter ausbleibt, wird das Leben schwieriger. Aber Tsangyang geht in Leh zu Schule, sie lebt in einem Internat, hat anspruchsvollen Unterricht und möchte später einmal Software-Ingenieurin werden. Wenn sie Ferien hat, ist die Straße nach Sangla manchmal unpassierbar. Dann muss sie zu Fuß gehen.

Der Dokumentarfilm „Chaddr – Unter uns der Fluss“ von Minsu Park erzählt von Tsangyang und ihren Eltern. Im Mittelpunkt steht der beschwerliche Weg, der einmal in Begleitung des Filmteams absolviert wird. Er führt durch ein felsiges Tal, im Idealfall ist der Fluss zugefroren und man kommt sicheren Schritts voran. Doch das brüchige Eis ist, wie der oft ausbleibende Schnee, ein Bild für die ökologischen Veränderungen in diesen Gegenden an den südwestlichen Ausläufern des Himalayas. Tsangyang und ihr Vater müssen sich über felsige Wände und durch unsicheren Untergrund ihren Weg suchen. Eines Tages sind sie plötzlich von einer Horde Extremtouristen umgeben, dann sind sie wieder ganz allein. Die Mutter rechnet schon mit dem Schlimmsten, doch es gibt ein Wiedersehen, und Tsangyang kann eine Weile bei den Eltern sein, die Tiere hüten, und die Ruhe und Sauberkeit in Sangla genießen. Eine Straße, die inzwischen auch durch das Flusstal gebaut wird, könnte das eines Tages ändern.

Minsu Park, aus Korea gebürtig, hat in München Film studiert. Mit „Chaddr – Unter uns der Fluss“ schafft er eine interessante Momentaufnahme aus einer Welt, die zwischen Vergangenheit und Zukunft wie in der Schwebe ist. Bert Rebhandl

D 2020; 88 Min.; R: Minsu Park; Kinostart: 19.8.


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