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Feiern in Berlin

Immer mehr illegale Open-Air-Partys in Berlin: Revolutioniert Corona die Techno-Szene?

In Berlins Feierszene brodelt es. Viele dürstet es nach Exzess, Bass und Begegnungen, aber in Clubs darf man wegen der Corona-Maßnahmen nicht tanzen. Kein Wunder, dass immer mehr Berliner*innen illegale Open-Air-Partys in den Parks von Berlin, in Brandenburger Wäldern und in verlassenen Bunkern und Gebäuden feiern. Das erinnert in mancherlei Hinsicht an die frühen Jahre des Techno und bringt frische Energie – die Entwicklung hat aber auch Nachteile.

Illegale Open-Air-Partys in Berlin: Revolutioniert Corona die Szene? In der Hasenheide fordert die Polizei die Feiernden immer wieder auf, den Mindestabstand einzuhalten.
In der Hasenheide fordert die Polizei die Feiernden immer wieder auf, den Mindestabstand einzuhalten. Foto: privat

Sonntagmorgen gegen ein Uhr nachts, irgendwo in Tempelhof nahe der Autobahn: Hunderte Menschen aus der Berliner Partyszene laufen eine Böschung hoch, kämpfen sich im Dunkeln durch die Büsche. Eben noch erfüllte Musik die Nacht, mehrere Raver*innen haben portable Boxen dabei. Jetzt stehen Polizist*innen auf der Wiese und fordern über Megafone auf, die Fläche zu räumen: „Verlassen sie das Gelände unverzüglich.“ Oben sammeln sich dunkle Gestalten auf dem Bürgersteig.

„Ich verspüre einen regelrechten Durst nach Exzess, lauter Musik und neuen Begegnungen. Die Krise verstärkt dieses Bedürfnis total. Und natürlich schwingt bei alldem auch der Reiz des Verbotenen mit“, sagt Fiona*. Fiona ist gerade aus den Büschen auf den Bürgersteig getreten, ist 25 Jahre alt, studiert und war diesen Sommer auf mehreren Open-Air-Partys. Inzwischen beginnt die Menge, sich aufzulösen.

Manche nehmen ihre Fahrräder und fahren Richtung Neukölln, andere gehen zur Nachtbushaltestelle. Wieder andere überqueren einfach die Straße, laufen auf der anderen Seite die Böschung runter und machen dort die Musik wieder an. Dazwischen: Polizist*innen, einer hat Pfefferspray und Schlagstock in der Hand.

Ein frischer Wind weht durch Berlins Feierszene

In Berlins Feierszene brodelt es. Seit Monaten sind die Clubs geschlossen und es dürstet junge Menschen nach dem Gefühl, das entsteht, wenn man sich mit anderen gleichzeitig im Takt bewegt. Es ist Sommer, die Zeit also, in der viele normalerweise mehr unterwegs sind, als sonst, in der man tagelang auf Festivals raven kann. Die Zeit, in der man tagelang in den Club-Gärten abtauchen können. Es ist die Zeit, in der auch in vergangenen Sommern auf illegalen Open-Air-Partys getanzt wurde.

Etwas aber ist anders in diesem Sommer. Das Bedürfnis vieler Partygänger*innen, die Nächte und Tage durchzuraven in Kombination mit dem Verbot, in Clubs zu tanzen, macht etwas Bemerkenswertes mit Berlins Feierszene: Die neuen illegalen Partys erinnern in mancherlei Hinsicht an die frühen Jahre von Techno. An die Zeiten, in denen es keine Türsteher*innen gab und man einfach alte Fabriken, leerstehende Lagerhallen und Lichtungen im Wald kaperte.

„Heute gibt es natürlich nicht so viele Freiräume, nicht so viele leerstehende Gebäude wie früher. Zwei Parallelen gibt es aber: Die Berliner sind gerade wieder mehr unter sich, es gibt nicht so vielen Touristen, die zum Feiern kommen. Und sie sind nach den Monaten ohne Clubs experimentierfreudiger als sonst.“, sagt Lutz Leichsenring, Pressesprecher der Club Commission.

Durst nach Bass und illegale Open-Air-Partys in Berlin: Revolutioniert Corona die Techno-Szene? Am Wochenende wird in der Hasenheide tagsüber und nachts gefeiert.
Am Wochenende wird in der Hasenheide tagsüber und nachts gefeiert. Foto: privat

Die Pandemie bringt neue Energie in eine Szene, die bequem geworden ist und in der einige Clubs Techno zu einer Ware gemacht haben. Wo viele zu faul waren, um zu Partys außerhalb des Rings zu fahren, wo es in den letzten Jahren kaum Bewegung gab und kaum neue Locations – auch weil die Stadt immer enger und teurer geworden ist. Clubs stellten auf der einen Seite sichere Räume zum Feiern bereit, auch für PoC (Person of Color) oder queere Personen. Andererseits mussten sie sich aber auch immer wieder den Vorwurf anhören, dass sie elitär sind, weil nicht jede*r hereingelassen wurde. Und wenn, dann musste man meist mindestens 15 Euro zahlen – weil DJs teilweise hohen Gagen verlangen, aber auch weil Menschen von den Jobs im Clubbetrieb leben.

In Tempelhof machen sich einige Teilnehmer*innen der gesprengten Open-Air-Party auf den Weg in die Hasenheide. Dem Ort, an dem schon seit Wochen Open-Air-Partys stattfinden, die deutschlandweit in den Schlagzeilen sind. Zuerst noch mit richtigen Anlagen, inzwischen mit kleinen Boxen in den Büschen. Auch dort ist die Polizei vor Ort. Der Park ist weitläufig und unübersichtlich. Auf einer Wiese sitzen verstreute Gruppen, in ihrer Mitte Sekt- und Weinflaschen. Dazwischen schlängeln sich Pfandflaschensammler*innen und Getränkeverkäufer*innen mit Lastenrädern.

Einerseits toleriert die Polizei das Geschehen in der Hasenheide, andererseits sind die Feiernden schwer fassbar

Wenn die Polizei Scheinwerfer aufstellt, um die Wiese, auf der die meisten Leute sitzen, auszuleuchten, flüchten die Raver*innen in die Büsche. Dort wird dann weiter getanzt, zwischen ein paar Lichterketten, einem Sofa und herumliegenden Baumstämmen. Fordern die Beamt*innen, den Busch zu räumen, zieht die Partygesellschaft einfach auf die nächste Wiese. Die Musikboxen sind klein und handlich, dass die Eigentümer*innen sie blitzschnell ausmachen und einstecken können, wenn die Polizei Anstalten macht, das Equipment zu beschlagnahmen.

Zu einem gewissen Grad toleriert die Polizei die Partys in der Hasenheide aber auch. „Wir wissen um die Musikwünsche der jungen Leute und sind nicht auf Konfrontation aus“, sagt ein Sprecher der Polizei Berlin. „Aber sobald uns Anwohnerbeschwerden wegen Lärm erreichen oder die Mindestabstände offensichtlich nicht eingehalten werden, beenden wir die Zusammenkünfte.“ In der Hasenheide seien die Menschen aber einsichtig und würden die Wiesen verlassen, wenn sie dazu aufgefordert würden – anders als im Park am Gleisdreieck.

Die Polizei zeigt jedes Wochenende Präsenz in der Hasenheide.
Die Polizei zeigt jedes Wochenende Präsenz in der Hasenheide. Foto: privat

Das alles ist ein bisschen wie Feiern in den Neunzigern

Die Hasenheide, der Park am Gleisdreieck und die Wiese in Tempelhof sind natürlich nicht die einzigen Orte, an denen gefeiert wird. Gut 30 Jahre nach der Geburt von Techno in Berlin und einer langen Tradition illegaler Raves, fahren wieder massenhaft Berliner*innen weit raus zu Partys in den Brandenburger Wald, zu Raves in Lagerhallen am Stadtrand und zu verfallenen Ruinen und Bunkern.

Wie der „Tagesspiegel“ berichtete, beendete die Polizei Mitte Juli einen Rave mit gut 600 Teilnehmern in einem Brandenburger Waldstück. Geortet hat man das illegale Spektakel mit einem Hubschrauber. Wenn auf solchen Partys professionelle DJs auflegen, stehen sie an provisorischen Tischen auf Höhe des Publikums. Anders als in vielen Clubs, wo sie unerreichbar auf Podesten oder hinter Aufbauten stehen, können sie so mit der Menge verschmelzen. In der Frühphase von Techno war genau das das Ideal: keine Idole und Stars, die DJs sollten sich nicht von der Menge abgrenzen.

Natürlich gab es auch in den letzten Jahren immer wieder illegale Open-Air-Partys in Berlin und Umgebung. Und viele Leute, die solche Partys ehrenamtlich organisiert haben, sogar ziemlich viele. Aber das Publikum war nicht so groß, wie es jetzt ist. Warum auch: Es gab ja die Clubs, für die man nicht ewig weit aus der Stadt fahren musste, wo sicher war, dass die Partys das Wochenende über laufen werden und nicht eventuell von der Polizei beendet werden.

„Vor allem sind viele sonst von den Open-Airs irgendwann weiter in die Clubs gezogen“, sagt Lutz Leichsenring von der Club Commission. Diesen Sommer aber sind die Menschen gezwungen, nach Partys zu suchen, oft weit zu fahren, dort zu bleiben und zu riskieren, dass das Ganze ein Flop wird, wenn sie feiern wollen. Das bedeutet: Mehr Commitment und mehr Risiko, aber auch mehr Abenteuer, mehr Underground und mehr Chancen für weniger etablierte DJs.

Darf man während der Pandemie überhaupt feiern?

In der Masse tanzen, sich Getränke teilen und rumknutschen ist während der Pandemie ohne Frage kritisch. Fiona, die in Tempelhof und auch schon in der Hasenheide gefeiert hat, findet Partys draußen trotzdem vertretbar. „Ich habe für mich entschieden, dass man die Corona-Verordnungen teilweise auch hinterfragen muss und dass sie für mich eher als Richtlinie dienen“, sagt sie. „Ich glaube nämlich, dass es da Grautöne gibt, die das Feiern, vor allem draußen, möglich machen und trotzdem niemanden in Gefahr bringen – auch wenn es illegal ist.“

Vielleicht ist es eine natürliche Entwicklung, dass die Leute anfangen, Risiken selbst zu bewerten. In der Stadt gibt es Orte, an denen die Gefahr einer Ansteckung mit Corona mindestens genau so groß scheint, wie auf Open-Air-Partys: in der U-Bahn, in Restaurants, wo die Tische nah beieinander stehen, in manchen Bars. „Ich glaube, ob du jetzt in die Hasenheide zu einer Party gehst, die draußen ist, oder in eine Bar, wo die meisten Gäste auch keine Abstände einhalten, macht echt keinen Unterschied“, sagt Lukas*. Er sitzt mit einer Flasche Sekt auf einer der Wiesen in der Hasenheide und ist hier zum dritten Mal auf einer Open-Air-Party. Wahrscheinlich wird er die ganze Nacht und den nächsten Tag bleiben.

Niemand ist verantwortlich und das ist aufregend

Die Raves in der Hasenheide und viele andere Open-Airs unterscheiden sich von den bisherigen illegalen Open-Air-Partys, in einem wesentlichen Punkt: Es gibt keine verantwortlichen Veranstalter*innen. Im Prinzip sind alle Beteiligten Veranstalter*innen und gleichzeitig niemand. Niemand kündigt die Raves an, es wissen eben alle, dass in der Hasenheide am Wochenende was los und kommen vorbei, manche mit Boxen.

Durst nach Bass und illegale Open-Air-Partys in Berlin: Revolutioniert Corona die Techno-Szene? Getanzt wird meist im Busch, gesessen auf der Wiese.
Getanzt wird meist im Busch, gesessen auf der Wiese. Foto: privat

Das ist irgendwie anarchisch und schön. Kaum jemand verdient daran Geld. Außerdem ist so eine dezentral organisierte Party schlecht angreifbar für die Polizei, weil die Situation eine morphende Masse ist. Pieksen die Beamt*innen rein, wabert sie zurück und verteilt sich woanders. Zudem bewegt sie sich in einer rechtlichen Grauzone. Denn sich nachts im Park aufzuhalten, ist nicht verboten. Und die Hasenheide ist weitläufig, Häuser sind weit weg, man stört nicht unbedingt irgendwelche Anwohner. Das alles ist aufregend und es erschwert die Arbeit der Polizei. Der Sprecher wiederholt: „Wir wollen mit Augenmaß vorgehen.“

Auf den ersten Blick mag es angesichts des Hauchs von Revolution und Erneuerung, den Corona und die neuen Partys in die Szene bringen, erscheinen, als hätte diese Entwicklung nur positive Aspekte. Das stimmt aber nicht ganz. Gerade in der Hasenheide fliegt um die Partybüsche nach den Wochenenden mehr Müll rum, als sonst. Anders als auf herkömmlichen illegalen Open-Airs fühlt sich niemand so richtig dafür verantwortlich. Außerdem: So anarchisch und egalitär, wie viele dieser neuen Partys sind, so elitär und exklusiv sind andere, die halb privat sind und klein gehalten werden – auch wegen des Infektionsschutzes.

Die Clubs dürfen trotzdem nicht sterben

Und auch wenn im Vergleich zu den spontanen Corona-Raves viele Clubs gesetzt wirken wie ein ergrauter Alt-68er, werden die meisten Partyleute wohl doch wieder hingehen, wenn die Clubs die Krise überleben und wieder aufmachen. Allein, weil es dort viel bessere Anlagen gibt und sich im Winter in Parks eh nicht feiert lässt.

Aber nicht nur deswegen. Die Clubs haben einiges erreicht und tun noch immer viel für die Stadt und dafür sollte die Feierszene dankbar sein. Sie trotzen Investor*innen und kämpfen für Freiräume, auch wenn das immer schwieriger wird. Sie bieten Orte, an denen sich Menschen entfalten können, die nicht der Norm entsprechen. Sie bieten Arbeitsplätze für Leute, die keinen geraden Lebenslauf haben. Sie haben Awareness-Teams etabliert, an die sich Feiernde wenden können, wenn sie sexuell oder sonst wie belästigt werden. Wenn Strasser oder Nazis kommen würden, gäbe es immer noch die Türsteher*innen, die sie nicht rein lassen. Außerdem fällt es in Clubs schneller auf, wenn es jemand zu viele Drogen genommen hat und Hilfe braucht, als in dunklen Büschen oder im tiefen Wald.

All diese Sicherheiten und Vorteile gibt es auf den neuen illegalen Raves nicht. Trotzdem: Ein wenig frischer Wind und Abenteuer kann nie schaden. Letztlich müssen die Feiernden auf illegalen Raves einfach gut aufeinander Acht geben. Aber aufeinander aufpassen muss man beim Feiern eh immer.


Es ist nicht so, dass die Clubs nicht geöffnet haben, man darf nur nicht tanzen. Im Berghain und in der Wilden Renate gibt es Kunst und das Ritter Butzke sponsert Freibier: Unser Club-Update. Mit einem Maßnahmenkatalog will Rot-Rot-Grün die Clubs retten — aber reicht der aus? Ihr seid nicht sicher, was ihr während der Corona-Pandemie dürft und was nicht? Berlin informiert regelmäßig über alle neuen Entwicklungen in der Krise.

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