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Jonathan Meese wird 50: Ein Gespräch mit dem radikalen Künstler über virtuelle Realitäten, Hitchcock und seine Mutter

Jonathan Meese über Virtual Reality, seine Mutter, Norman Bates und seine VR-Installation „Mutter und Sohn = Realität trifft Kunst. (Z.U.K.U.N.F.T. der Unendlichkeit)“

Daniel Waldhecker

tip Herr Meese, Ihre Virtual-Reality-Performance im Gropius-Bau hat den Titel „Mutter und Sohn = Realität trifft Kunst. (Z.U.K.U.N.F.T. der Unendlichkeit)“. Was geschieht, wenn Kunst und Realität aufein­andertreffen?
Jonathan Meese Am Ende gewinnt immer die Kunst. Die Realität tut so, als wäre sie stark, aber in Wirklichkeit ist sie ganz schwach. Und Mami ist natürlich nicht wirklich Realität, sie tut nur so.

tip Ihre Mutter kommt in Ihrer Installation gleich mehrfach aus der Wirklichkeit in den Raum der Kunst, aber ganz real sind diese sechs Mütter nicht.
Jonathan Meese Richtig, die Mami sprengt die Realität, indem sie sich versechsfacht, sechs mal sechs mal sechs und so weiter. Die Sechs ist die umgedrehte Neun, „999“ ist die Zahl des Teufels. Mami ist der liebevollste Teufel, den ich mir vorstellen kann. Sie scheucht mich, sie sagt immer zu mir: „Mach nicht schlapp. Leg los. Mach weiter.“ Meine Mutter ist der Befehlshaber, mit 88 Jahren. 88 ist zweimal das aufgestellte Zeichen der Unendlichkeit. Das ist der Schwung nach vorne.

tip Norman Bates sagt in Hitchcocks „Psycho“ zu Marion Crane, der jungen Frau, die in seinem Hotel gelandet ist, der beste Freund eines Mannes sei seine Mutter. Stimmen Sie zu?
Jonathan Meese Das sehe ich genau so. Ich habe eine Freundin, die ist total wichtig. Doch der beste Kamerad ist die Mutter, aber nur, wenn sie nicht ideologisch ist und wenn sie ihren Sohn nicht verstößt.

tip Bei Norman Bates hatte die Liebe zur Mutter eher unschöne Folgen.
Jonathan Meese Er hat sie halt mumifiziert. Ich will das nicht machen, sondern die Kunst wird meine Mutter mumifizieren, wie bei den Pharaonen.

tip Slavoj Žižek hat eine an Freud angelehnte Theorie über die drei Stockwerke des Hauses, in dem Norman Bates lebt. Im Dachgeschoss wohnt die mumifizierte Mutter, das ist das Über-Ich, die Kontrollinstanz. Im Erdgeschoss wohnt der scheinbar normale Alltags-Bates, das ist das Ich. Im Keller wohnen die Leichen, das ist das Es, die undomestizierte Trieb-Struktur.
Jonathan Meese Das ist total einleuchtend. Wir wohnen auch in einem dreigeschossigen Haus. Meine Freundin und ich wohnen oben. Ich bin das Über-Kind, deshalb funktioniert das. Meine Mutter wohnt in der Mitte. Unten ist das Büro, und der Keller ist das Archiv. Der Keller ist die Kunst, da wird es gefährlich. Meine Mutter ist die Pufferzone; dagegen wird immer von beiden Seiten gedrückt wie in einer großen Presse. Ich drücke von oben, die Kunst drückt von unten. Meine Mutter symbolisiert die Realität, sie spielt das Volk, aber das ist sie natürlich nicht. Die Realität tut nur so, als wäre sie real.

tip Damit sind wir bei Virtueller Realität. Wenn wir uns in der Simulation virtueller Realitäten bewegen, wird der Begriff der Wirklichkeit uneindeutig: Wenn uns diese Fiktion, etwa eines Computerspiels, als Realität erscheint, ist vielleicht umgekehrt auch das, was uns als Realität erscheint, nur eine Fiktion. Elon Musk, der Gründer des Tesla-Konzerns, ist fest davon überzeugt, dass wir alle in einer großen Computersimulation leben. Zumindest hält er das für sehr viel wahrscheinlicher als das Szenario, dass das, was wir für real halten, tatsächlich real ist. Klingt das einleuchtend?
Jonathan Meese Es klingt auf jeden Fall schön, wie ein Traum. Vielleicht stimmt es, vielleicht nicht, aber das ist eigentlich bedeutungslos. Ich habe nichts dagegen, in einer Computer-Simulation zu leben, wenn das so sein sollte.

tip Der Philosoph Thomas Metzinger hat sich intensiv mit Gehirnforschung und Virtueller Realität beschäftigt. Er ist davon überzeugt, dass unser Bewusstsein nichts anderes produziert als Virtuelle Realität: „Seit Millionen von Jahren existiert die Virtuelle Realität in unserem Kopf. Es ist offenbar ein sehr gutes Modell der Wirklichkeit, wenn wir bis heute damit überlebt haben. Aber wenn wir es (bei einem VR-Experiment) geschickt anstellen, glauben Sie, Sie seien in einem anderen Körper.“
Jonathan Meese Das ist das Zwischenreich im eigenen Kopf. Der Fehler ist, dem Zwischenreich nicht zu trauen. Wir glauben, das seien Chimären, die wir zu bekämpfen haben. Nein, lass es sausen. Mach noch mehr in deinem Kopf. Die Virtuelle Realität vergrößert den Zwischenraum, und dieser Zwischenraum ist die Kunst. Der Zwischenraum der Kunst muss so groß werden, dass er die Realität sprengt oder in sich aufsaugt wie ein schwarzes Loch im Weltall. Man kann die Simulation der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit der Kunst auflösen. Es gibt ideologische Simulationen, die heißen Staat, Religion, Politik, Demokratie, Kommunismus. Das führt nur in die Vergangenheit. Das Problem der Wirklichkeit ist, dass sie so eisern darauf beharrt, dass sie die Wirklichkeit ist. Kommunismus ist nur eine Erfindung der Kunst. Die Demokratie ist nur eine Erfindung der Kunst. Gott ist nur eine Erfindung der Kunst, ein Traum. Wenn er einen langen weißen Bart hat und Ahab ist und wieder zu Lassie oder zu Flipper wird, dann ist Gott gut. Man muss diesen Typen ja nicht stehen lassen, auch Gott hat ein Recht darauf, mumifiziert zu werden wie die Mutter von Norman Bates.

tip Die amerikanische Künstlerin Claire Pentecost hat eine gute Definition für Immersion: Die „absichtliche Aufgabe des Selbst an eine überflutende Umgebung.“ Ist das eine beängstigende oder eine schöne Vorstellung?
Jonathan Meese Eine sehr schöne Vorstellung. Für mich ist Immersion die Ausdehnung der Zwischenräume. Im Moment werden so viele Spielräume geschlossen. Wenn sich die Zwischenräume ausdehnen, bricht alles auf, dann sind wir Eisbrecher. Wir müssen die Realität aufbrechen, um jeden Preis, dann wird’s geil. Diese saubere Kunst, die gerade gefordert wird, die Durchkultivierung, das ist der Tod.

tip Claire Pentecosts Definition des von Eindrücken überforderten und überfluteten Selbst klingt, als würden Immersions-Kunstwerke ähnlich funktionieren wie Drogen: eine Möglichkeit, Urlaub vom eigenen Bewusstsein zu nehmen.
Jonathan Meese Das ist die Droge Kunst. Diese Überforderung ist doch gerade gut. Mich selbst zu überfordern, auch mit Material, auch mit der Produktion, das ist mein Prinzip. Viele in der Kunst machen wenig, um dem eine größere Bedeutung zu verleihen. Manchmal funktioniert das, manchmal ist es auch zu einfach und prätentiös. Wenn man sehr viel produziert, weiß man irgendwann nicht mehr, wohin man greifen soll. Dann greift man automatisch immer richtig.

tip Es gibt Filme, in denen man Sie im Atelier bei der Arbeit sieht. Es läuft laute Musik, Sie malen an mehreren Werken gleichzeitig. Es sieht aus, als würden Sie tanzen und nebenbei entstehen Bilder.
Jonathan Meese Nebenbei entstehen immer die besten Bilder. Ich denke nicht beim Malen, ich denke nur immer: weitermachen, weitermachen. Der Reflex ist der Blitzschlag, der Körper macht es von selbst, wie ein Automat. Der Ablauf ist irgendwo programmiert, sonst könnte man es nicht so abrufen. Es ist keine Zwangsmaßnahme, es passiert, wie Atmung, wie Schlaf.

tip Arbeiten Sie daran, dass Ihr Zwischenreich der Kunst die Welt aufsaugt?
Jonathan Meese Wer daran nicht glaubt, muss als Künstler erst gar nicht anfangen. Ich will, dass sich mein Atelier immer weiter ausdehnt und so groß wie Berlin wird. Und dann so groß wie Deutschland. Und dann so groß wie Europa. Und dann so groß wie dieser Planet. Und dann so groß wie das Universum. Wer nicht zumindest diese Sehnsucht hat, kann sofort aufhören, Kunst zu machen. Ohne das Ziel der Weltherrschaft kann es keine Kunst geben. Ohne dieses Ziel kann man es bleiben lassen. Wer das nicht will, muss ehrlicherweise die Kunst so radikal bekämpfen, dass sie verschwindet. Aber das tun schon zu viele. Es gibt so viele Kunsthasser in den Museen, in den Akademien, in der Politik, in den Galerien. Kunstliebende, die der Kunst vertrauen, die ihr alles, wirklich alles zutrauen, gibt es ganz wenige.

tip Das ist Ihr Ernst, oder?
Jonathan Meese Das ist mein totalster Ernst. Leider glauben viele, das sei eine Masche. Aber das ist keine Masche, das ist der Endpunkt. Wer nicht an die Weltherrschaft der Kunst glaubt und lieber ein paar Bilder in ein paar Galerien verkaufen will, ist kein Künstler, das sind Arschlöcher. Das sind Politiker. Die haben keine Wünsche mehr, die wollen nur in die Vergangenheit. Die wollen ein minimalstes Stück vom Kuchen, aber man muss doch die Bäckerei haben wollen und alle Rezepte und alle Zutaten neu erfinden. Nur als Konsument ein paar Brosamen auflecken, die irgendein mieser Ideologie-Bäcker serviert, das macht nicht satt, davon bekommt man Durchfall. Die Leute, die nur irgendwie mitmischen wollen, finden die Welt ganz okay. Das ist grauenhaft, das ist das Gegenteil von Kunst. Ein Künstler findet die Welt, in der er lebt, immer scheiße. Sonst müsste er ja keine Kunst machen. Kunst ist Wahrnehmungsstörung. Kunst ist die Zerstörung des Vorherrschenden, immer gewesen.

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