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Schauspieler-Legende

Jürgen Holtz ist tot: „Meine Nationalität ist Zirkus“ – das letzte Gespräch mit tipBerlin

„Meine Nationalität ist Zirkus“ – Der Ausnahmeschauspieler Jürgen Holtz hat vergangenes Jahr mit tipBerlin über Kindheit, die Arbeit mit Frank Castorf und die Freiheit im Spiel gesprochen. Es war sein letztes Interview mit tipBerlin. Am 21. Juni ist Holtz in Berlin gestorben. Hier noch einmal das Gespräch mit Peter Lauderbach, das nun durch die traurige Nachricht eine besondere Bedeutung für ihn und unsere Redaktion hat.

Jürgen Holtz uaf der Bühne, wo er immer hingehörte. Am 21. Juni starb der Ausnahmeschauspieler.  Foto: Matthias Horn

Als Berliner Fernseh-„Motzki“ wurde Jürgen Holtz einem Millionenpublikum bekannt. Im Theater waren ihm die komplizierten und etwas anstrengenden Regisseure am liebsten: Einar Schleef, Robert Wilson, Peter Stein, Benno Besson, Heiner Müller. Das könne daran liegen, dass der Ausnahmeschauspieler selbst etwas kompliziert ist und es sich nicht gerne zu leicht macht. Derzeit spielt Holtz am Berliner Ensemble Brechts „Galilei“, Regie: Frank Castorf. Jürgen Holtz, 86, einer der dienstältesten Schauspieler des Landes, sitzt hellwach in der Kantine des Berliner Ensembles.

tip Herr Holtz, Sie arbeiten bei „Galilei“ zum zweiten Mal mit Frank Castorf. Wie kommen Sie mit dem gefürchteten Herrn Castorf zurecht?
Jürgen Holtz Bis jetzt ganz gut. Am Anfang der Aufführung bin ich ganz nackt. Ich muss das volle Risiko eingehen, anders geht es nicht. Theater hat mit Demut zu tun, mit Demut gegenüber den Texten, den Kollegen, den Zuschauern, auch mit Demut gegenüber dem eigenen Talent.

tip Wie kann man dem eigenen Talent gegenüber demütig sein?
Jürgen Holtz Indem man sein Talent nicht verkauft. Ich habe nichts zu verkaufen, ich habe nur etwas zu verschenken. Das ist etwas Kostbares. Wenn alles zur Handelsware wird und das Theater sich vor allem gut verkaufen will, ist das nicht besonders attraktiv.

tip Der Optimismus in Brechts „Galilei“ wirkt fast wie ein Märchen: Mit Galilei beginnt eine neue Zeit der Vernunft. Das schreibt Brecht 1938 im Exil, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Ist das Wunschdenken?
Jürgen Holtz Auch heute kommt eine neue Zeit, wir wissen nur nicht, wie sie aussieht. Gleichzeitig mit Galileis Entdeckungen finden der Dreißigjährige Krieg, die Inquisition und die Pest statt. Und trotzdem hofft Galilei auf die Wissenschaft. Auf gewisse Art ist er weltfremd, wenn er sich nur für die Astronomie interessiert. Er hat etwas von einem Kind, das spielt.

tip Sind Sie das manchmal auch, wenn Sie auf der Bühne stehen: ein Kind, das spielt?
Jürgen Holtz Das müssen andere sagen. Als Jürgen Gosch am Deutschen Theater den „Sommernachtstraum“ inszeniert hat, hat er mich gefragt, welche Rolle ich spielen will. Ich habe einen Moment nachgedacht und mir, ohne etwas Böses dabei zu denken, den Puck gewünscht, den Narren. Das hat sich als eine Lebensrolle herausgestellt. Ich habe ihn in einer grünen Turnhose, mit einer Blechflöte und sonst nichts gespielt. Das bin ich selbst. Ich bin kein Selbstdarsteller, aber dieser Puck mit der Blechflöte hat mit mir, mit meinem Innersten enorm viel zu tun. Ich habe ohne Musikbegleitung Jazz getanzt und allen möglichen Schabernack getrieben. Das bin ich. Der Beruf heißt Schauspieler und nicht Schau-Prediger oder Schau-Selbstdarsteller. Und dieses Spiel hat mit Freiheit zu tun und mit Weltvergessenheit. Man stellt sich auf die Bühne und ist nackt, egal ob man was anhat oder nicht.

tip Das klingt sehr ungeschützt.
Jürgen Holtz Man steht im Licht, und die anderen sitzen im Dunkeln und können einen mit Kirschkernen bespucken. Ich habe das erlebt, Kirschkerne vom ersten Rang. Schauspieler, die sich im Spiel ungeschützt entäußern, müssten geschützt werden wie Kinder. Und diesen Schutz haben wir nicht mehr. Ich bin durch das, was ich über 60 Jahre als Schauspieler erlebt habe, sicher auch durch Angst geprägt. Es hat lange gedauert, bis ich mich mehr getraut habe. Alle möglichen Intendanten, die nicht verstanden haben, wer ich bin, wollten mich zwingen, mich ins Kollektiv zu fügen. Es gibt kein Schauspielerleben ohne Verletzungen, zumindest nicht bei halbwegs intelligenten Schauspielern. Wer dumm ist, lässt sich einfach benutzen, das ist vermutlich bequemer. In meiner Lebensgeschichte gab es viel Angst. Soll ich Ihnen sagen, wo ich gesehen habe, was Freiheit im Spiel bedeutet? Das war vor ein paar Jahren in einem Film über Jugendliche in der DDR, die Skateboard gefahren sind (die Mockumentary „This ain’t California“ von Marten Persial). Die hatten schreckliche Zusammenstöße mit der Polizei.

tip Weshalb bekamen die unpolitischen Skateboarder im Film Ärger mit der Staatsmacht?
Jürgen Holtz Was ist schon unpolitisch, wenn man spielt. Spiel ist der größte Moment von Freiheit. Die Polizei, die diese Jugendlichen zusammengeschlagen hat, hat genau gewusst, was politisch gefährlich ist und was nicht. Worum geht es denn, wenn wir im Spiel merken, dass wir frei sind? Es geht ums eigene Leben. Was jetzt der Neoliberalismus macht, wenn er alles, jede Lebensregung in eine Ware verwandelt, ist das Gegenteil von Spiel und Freiheit. Ich verwahre mich dagegen. Ich will das nicht.

tip Gehen im Theater die Momente der Freiheit vor lauter Erfolgsdruck verloren?
Jürgen Holtz Das Theater ist eingeschüchtert, es fühlt sich sehr klein neben den großen Medien. Das Theater traut sich selbst nicht mehr und versucht viel zu oft, das Fernsehen zu imitieren. Viele Gegenwartsstücke wirken, als wären sie von der „Tagesschau“ abgeschrieben – als hätte das Theater Angst vor Poesie und Anmut. Theater hat immer etwas von Märchen, es gibt ja auch grausame Märchen. Ich kenne Eltern, die ihren Kindern keine Märchen mehr erzählen, weil sie Angst haben, die Grausamkeiten könnten ihren Kindern Schaden zufügen. Die haben einen Knall, sie haben keine Ahnung, was in Kindern vor sich geht. Die gleiche verlogene Pädagogik zerstört auch das Theater, wenn Dramaturgen Theater mit Aufklärung und Volkserziehung verwechseln.

tip Nach der Wiedervereinigung haben Sie in der Fernsehserie „Motzki“ einen wütenden, Westberliner Kleinbürger gespielt, der die Ostler hasst. Leben wir 30 Jahre nach dem Mauerfall in einem vereinigten Deutschland?
Jürgen Holtz Keinesfalls, die Beleidigungen sind zu groß. Die DDR-Bevölkerung ist enteignet worden, das war eine feindliche Übernahme. So eine Figur wie Motzki ist eine Entlastung, wie Ekel Alfred in den 1960ern, nur härter. Man muss den Hass auskotzen. Dann kann man ihn bearbeiten. Wenn es verdrängt wird, wird es gefährlich. Das erleben wir heute. Ich habe mich als junger Mensch für die DDR entschieden. Nach dem Krieg lebten wir in Westberlin. Ich ging nach Ostberlin, weil ich das wollte. Auch weil auf dem Westberliner Internat, in dem ich als schwieriger Jugendlicher war, der Rektor rausgeworfen wurde, ein guter Mensch. Er war Widerstandskämpfer und musste im Krieg in eine Strafkompanie. Und so ein Mann wurde entlassen, weil er Kommunist war. Dagegen sind wir als Jugendliche auf die Barrikaden gegangen. Ich war ein glühender Verfechter des Kommunismus und war ein Kind. Ich war absolut überzeugt von den sozialen Ideen. Ich fand das großartig. Es gab nach 1945 eine Zeit der echten Hoffnung. Obwohl ich als Schauspieler in der DDR immer Ärger hatte, habe ich an dieses Land geglaubt. 1983 bin ich in den Westen gegangen. Das hat mir damals sehr weh getan, aber in Ostberlin, das ging nicht mehr. Aber Regierungen sind mir im Grunde meines Herzens egal. Meine Nationalität ist Zirkus.


Vieles hat sich geändert in diesem Jahr. Der Abschied von Holtz trifft die Berliner Theater-Welt in einer Zeit, die ohnehin hart ist. Die Pandemie zwingt die Häuser zum Umdenken, die neue Spielzeit ist in vielerlei Hinsicht anders.

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