Ein Mikrokosmos von Egozentrikern
Ginnie (Lilith Spangenberg) soll „ins Heim“. Die vergangenen Jahre hat ihre ältere Schwester Heli (Jördis Triebel) die geistig gehandicapte junge Frau im elterlichen Haus betreut, doch nun möchte die Malerin Heli ein selbstbestimmtes Leben führen. Für ein letztes gemeinsames Wochenende sind die Brüder der beiden Frauen angereist, drei unterschiedliche Charaktere: Frederik (Kai Scheve), ein bieder-erfolgreicher Orchestermusiker, Bruno (Florian Stetter), der den anderen gern nervige Vorträge hält, und Tommie (Hanno Kofler), ein erfolgloser Jazzmusiker.
Nun will man Abschied nehmen, was für sich genommen bereits eine merkwürdige Konstruktion ist – ganz so, als ob Ginnie nach der Unterbringung im Heim völlig verschwunden wäre. Deutlich wird, dass die Brüder Heli bislang schon mit der Verantwortung für die Schwester allein gelassen haben. Jetzt überbieten sie sich mit sinnlosen Ratschlägen und taktlosen Bemerkungen, ihr schlechtes Gewissen tritt dabei ebenso zutage wie kleinlicher Neid. Wer die „Idioten der Familie“ sind, danach braucht man in Michael Kliers Familienensemblestück nicht lange zu fragen.
Das Drehbuch ist dabei nicht auf dramatische Höhepunkte hin ausgerichtet, hier geht es mehr um die präzise Beobachtung eines Mikrokosmos von Egozentrikern: Im Umgang mit Ginnie sind die Brüder hilflos und wirken stets merkwürdig übergriffig. Ginnie scheint für sie ein seltsames Tier zu sein, das ständige Gefummel an der Schwester fällt einem als Zuschauer auch deshalb so unangenehm auf, weil zur körperlichen Nähe das Äquivalent von Respekt und emotionaler Nähe fehlt. Für Ginnie sind die Brüder hingegen Fremde, und sie deutet das alles auf falsche Weise richtig – bekommt Angst, oder glaubt gar an einen sexuellen Annäherungsversuch.
Ganz anders die Beziehung zwischen Heli und Ginnie: Man erkennt die Handgriffe professioneller Pflege, aber auch eine unausgesprochene Vertrautheit. Dass mit Ginnie eine emotionale Verständigung möglich ist, zeigt eine Szene, in der die Geschwister gemeinsam Musik machen und tanzen – der einzige Moment, in dem sie sich wortlos nahe scheinen. Im Film selbst weist zwar nichts über die private Situation der Geschwister hinaus, doch man kann darin eine Parabel auf eine egozentrische Gesellschaft sehen. Klier stellt uns allen kein sehr gutes Zeugnis aus.
Idioten der Familie D 2019, 102 Min., R: Michael Klier, D: Lilith Spangenberg, Jördis Triebel, Hanno Kofler, Kai Scheve, Florian Stetter, Start: 12.9.