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Achtung Berlin 2025: „Wir sind kein Underground-Festival mehr“

Am 2. April 2025 eröffnet das 21. Achtung Berlin Festival, bei dem es Filme aus der Region zu sehen gibt. Im Lauf der Zeit hat sich diese Jahresschau nach der Berlinale als Fixpunkt im Kalender etabliert. Grund genug, sich mit Sebastian Brose und Regina Kräh, die gemeinsam das Festival leiten, über die Zeit seit der ersten Ausgabe im Jahr 2005 zu unterhalten.

Sebastian Brose und Regina Kräh leiten das Achtung Berlin Filmfestival. Foto: Achtung Berlin Filmfestival

tipBerlin Hallo, wir wollen über Achtung Berlin reden. Das Festival geht in das dritte Jahrzehnt. Steigen wir vielleicht so ein: Wollt Ihr jeweils einen Film aus dem diesjährigen Programm benennen, an dem euch etwas besonders interessant scheint? Es geht mir nicht darum, dass ihr einen besten Film benennt, sondern einen mit einem bestimmten Aspekt, der euch wichtig ist.

Regina Kräh Tatsächlich ist es natürlich so: Wir wollen allen gerecht werden. Es ist auch nicht leicht, einen Film herauszugreifen. Ich würde einen Film aus der Retrospektive über Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs im deutschen Film nehmen, der wir den Titel „Der lange Schatten“ gegeben haben. Da hat es für mich die stärksten Überraschungen gegeben. „Die Mörder sind unter uns“ von Wolfgang Staudte habe ich vor etwa 20 Jahren schon einmal gesehen.

Jetzt aber, mit dem Blick auch auf die jüdische Perspektive und die Antisemitismusdebatte, ist mir aufgefallen, dass Hildegard Knef eine junge Holocaustüberlebende spielt, die picobello aus dem KZ zurückkommt, während in ihrer Wohnung der Kriegsheimkehrer sitzt, der vollkommen traumatisiert ist.

Die Mörder sind unter uns. Foto: DEFA-Stiftung/Eugen Klagemann

Klar, Staudte hat dieses große Thema früh angefasst, es ist der erste Nachkriegsfilm, der Täterschaft überhaupt thematisiert, aber die Täter-Opfer-Umkehr ist doch deutlich. Das hat eine ganze Generation geprägt. Susanne und ihr Schicksal kriegen gar keinen Raum. Das hängt auch mit den Geschlechterrollen zusammen. Die Frau hatte damals eh kein Narrativ, aber es ist doch erstaunlich, wie deutlich das ist.

Sebastian Brose „Nulpen“ von Sorina Gajewski ist ein Abschlussfilm von der DFFB, der mit einer tollen Erzählsprache einen magischen Moment einzufangen versucht: zwei junge Menschen nach dem Abitur. Die Regisseurin bringt das sehr authentisch auf die Leinwand, da wirkt nichts aufgesetzt. Es geht um Klimademos und um das, was die jungen Leute bewegt. Anhand der beiden Figuren zeigen sich aber auch Klassenfragen. Gajewski stellt die Frage: Was bewirkt die soziale Herkunft? Es geht also um einen sozialen Raum und nicht nur um subjektive Identitätssuche. Das finde ich beispielhaft.

Filmstill aus „Nulpen“. Foto: Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin

tipBerlin Achtung Berlin wurde Mitte der 2000er-Jahre gegründet. Regina Kräh war damals noch nicht dabei. Wie kam die heutige gemeinsame Leitung zustande?

Sebastian Brose Ich habe das Festival zusammen mit Hajo Schäfer gegründet. Es war eine ganz andere Zeit in Berlin. Es gab vor allem nicht so viele Festivals wie heutzutage. Die ganze Filmbranche war noch anders. Kleinere Independent-Firmen waren nicht so verbreitet, die sind alle erst in den  2010er Jahren entstanden. Die Berlinale hat nur Premieren gezeigt. Unsere Grundidee war: da passiert doch etwas, da gibt es in Berlin einen Aufschwung. Auch der tip hatte damals einmal ein Cover über die Filmstadt Berlin. Es gab „Lola rennt“, dann „Goodbye Lenin“, das Medienboard wurde gegründet. Achtung Berlin kam also aus dieser Aufbruchstimmung.

Regina Kräh Ich hatte einen Dokumentarfilm 2009 beim Achtung Berlin Filmfestival. Einige Jahre später kam ich dann mit der Idee, eine Reihe mit Wendefilmen zu machen, auf das Festival zu. Ich wollte gern einige Filme zeigen aus der Zeit, die ich kannte, aber auch Neue entdecken. Diese Stadt und die Filme – das hat sich bei mir so verkoppelt. Das war dann die erste Retro. Vor fünf Jahren ist Hajo Schäfer rausgegangen, der ist Lehrer geworden. Und ich bin dann in die Leitung gegangen.

Sebastian Brose  In den ersten Jahren haben wir sehr viel genommen, was an Filmen so da war. Es gab auch Skepsis gegenüber einem neuen Filmfestival.  Damals gab es noch kein Social Media. Da hatte man noch andere Vorstellungen von Überforderung.

Filmstill aus „Blindgänger“: Der Film läuft zur Eröffnung des Achtung Berlin Filmfestivals am 2. April. Foto: MissingFilms

tipBerlin Wie und wann kamen Sie beide nach Berlin? Zu einem Interesse für Kino?

Regina Kräh Ich bin ’89 hierhergekommen und ’90 nach Ost-Berlin gezogen, nach Mitte, wo ich noch immer bin, weil ich hier eine günstige Wohnung habe. Zu siebt haben wir in einem Kollektiv im Publizistik-Studium einen Kurzfilm gemacht, der lief sogar in Locarno. Jemand aus der Gruppe hat bei dem Regisseur Fred Kelemen Licht gemacht und gesagt, ich soll doch mal rumkommen. Da ging es zuerst um Statisterie, dann habe ich mich in die Regie-Assistenz reingearbeitet. Ich habe aber auch an der FU bei Michael Klier ein Seminar besucht. Danach habe ich bei „Verhängnis“ von Fred Kelemen Regieassistenz gemacht. Ich habe immer Praxis und Theorie verbunden, und dann auch in Amsterdam bei Thomas Elsaesser meinen Master in Filmwissenschaften gemacht. Zudem arbeite ich bis heute immer noch bei der Deutschen Welle, um Geld zu verdienen.

Sebastian Brose hat das Achtung Berlin Filmfestival mit Hajo Schaefer gegründet

Sebastian Brose Ich komme aus der Literatur, habe Literatur und Kunstgeschichte studiert. An der Uni Bremen war Film immer sehr wichtig und gehörte schon zur Kunstgeschichte dazu. Das war an anderen Unis nicht so. Da habe ich mich mit unbewusster Geschichtsschreibung in Film und Fotografie beschäftigt. Das Thema hat mich gepackt. Wir haben Alexander Kluge geschaut oder Theo Angelopoulos. David Lynch hat mich damals umgehauen. Das haben wir dann mit den Mitteln der psychoanalytischen Filmkritik untersucht. 2001 kam ich nach Berlin. Das war eigentlich nur ein Gefühl: Irgendwann muss man nach Berlin gehen. Alle müssen nach Berlin gehen. Man wollte was machen mit Kultur, da war klar: der Hotspot ist Berlin. Denn da ist so viel passiert Ende der 1990er Jahre. Blumfeld haben damals gesungen: Berlin, da wo die Leute aus Heimweh hinziehen. Als ich dann mit Hajo Schaefer Achtung Berlin gegründet habe, wurde das für mich zu einer perfekten Gelegenheit, mir Expertise zu verschaffen.

tipBerlin Regina, du hast auch selbst Filme gemacht.

Regina Kräh Ich habe viel probiert, aber ob man in diese Karriere reinkommt, das hängt auch mit Klassenunterschieden oder familiärem Background zusammen. Ich verdiene mein eigenes Geld, seit ich 20 bin. Bei Achtung Berlin habe ich meinen Platz gefunden. Ich war viel in Berlin unterwegs mit der Kamera, habe viel angefangen, auch manches nach Oberhausen zu den Kurzfilmtagen geschickt, das wurde aber nicht genommen. Meine Filme passen nicht in eine Schublade.

tipBerlin Was hat sich in der Filmbranche geändert in den 20 Jahren?

Sebastian Brose Wir waren vor zehn Jahren noch mehr Independent. In den 2010er Jahren gab es Mumblecore-Filme, das war eine Bewegung, die sagte: wir haben keine Lust auf Förderung. Das waren sehr kreative drei, vier Jahre. Das hat genau zu uns gepasst. Mittlerweile sind die Erwartungen, die an das Festival gestellt werden, gestiegen. Dadurch hat sich das Programm schon ein bisschen professionalisiert. Auch im Zuge der Digitalisierung ist viel passiert. Wir sind kein Underground-Festival mehr.

Das Achtung Berlin Filmfestival schaut auch nach Filmen außerhalb renommierter Hochschulen

Regina Kräh Wir haben als einziges deutsches Festival von Fabian Stumm sowohl den Kurzfilm als auch als eins von zwei Festivals den mittellangen Film gezeigt, der bei uns direkt gewonnen hat. Später haben wir uns alle riesig gefreut und waren natürlich auch wehmütig, als er auf der Berlinale lief. Und so gibt es viele Leute, die bei uns eine Chance kriegen und bestärkt werden, weiterzumachen. Wir gucken immer auch, was neben den renommierten Filmhochschulen auch von der Filmarche dabei ist und von der Fachhochschule oder von keiner Schule.

tipBerlin Dokumentarfilm war bei Achtung Berlin immer gleichwertig. Täusche ich mich, oder boomt diese kleine Branche ein bisschen?

Regina Kräh Dokumentarfilm war bei uns immer wichtig. Wir zeigen gern zum Beispiel Filme, die ihre Uraufführung beim Dok Leipzig hatten. Letztes Jahr hatten wir mehrfach ein ausverkauftes Babylon im großen Saal, beispielsweise als wir „Hausnummer Null“ gezeigt haben. Die Protagonist:innen des Films waren alle da.

Sebastian Brose Wir haben dieses Jahr auch eine Veranstaltung zum Impact Producing in unseren Branchentagen. Da ist ein Riesenpotential. Viele Themen können mit einem Dokfilm sehr gut kanalisiert werden. Das wird heute viel breiter wahrgenommen, das sehen wir auch beim Festival. Zum Beispiel „Nacht der Kojoten“, der spielt in Mexiko, wo in einem Dorf die Flucht in die USA nachgespielt wird, um darauf aufmerksam zu machen, welche Folgen Migration für die einheimische Gesellschaft haben kann.

tipBerlin In Berlin geht es immer ziemlich hin und her: mal Boomtown, mal Hangover. In was für einer Phase sind wir jetzt gerade?

„Eine gewisse Durchlässigkeit, auch gesellschaftlich, wäre schon schön“

Regina Kräh Ich glaube, es ging runter, und wird auch wieder hochgehen. Persönlich kommt es mir so vor, als würde die Faszination und Neugier immer weniger. Ich fühl mich in Mitte nicht mehr so, dass ich starkes Heimweh bekomme. Ich freu mich über jede Platte hier, über jeden Ort, der nicht so posh ist. Ich brauche es nicht so brüchig wie nach der Wende – das war ja wie Nachkriegszeit. Aber ein bisschen poröser, also insgesamt eine gewisse Durchlässigkeit, auch gesellschaftlich, wäre schon schön.

Sebastian Brose Es besteht jedenfalls die Gefahr, dass Berlin das, wofür es steht, selber untergräbt. Die Kulturkürzungen setzen so eine Entwicklung fort, die auch schon vor Corona zu spüren war, dass nämlich vieles aus der freien Szene verloren geht, dass viel vom kreativen Spirit verloren geht. Aber für mich ist er immer noch da.

  • Achtung Berlin Filmfestival 2.–9.4.2025 in zahlreichen Berliner Kinos, mehr Infos, Programm und Tickets hier

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