Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, jetzt also mit neuer Verfilmung, erschien vor gut neunzig Jahren. Seither begleitet er Deutschland durch die Zeiten und Systeme. Nahezu jede Generation macht sich ihr eigenes Bild von den Erlebnissen von Franz Biberkopf in einer überwältigenden, gnadenlosen Großstadt. Es fehlt eine Wirtschaftswundervariante, aber damals passte der Stoff eben nicht wirklich in den Zeitgeist. Fassbinder machte aus „Berlin Alexanderplatz“ vor 40 Jahren eine Vision seiner sexuellen und politischen Obsessionen.
Und nun kommt von Burhan Qurbani eine Adaption, die mit beinahe schlafwandlerisch wirkender Intuition einen Querschnitt durch die Anliegen und Schwierigkeiten einer komplizierten Gegenwart gibt. Dabei ist der Umstand, dass Franz Biberkopf in diesem Fall aus Afrika kommt, nur ein Aspekt. Der andere betrifft eine generelle Sehnsucht nach dem Berlin der 20er-Jahre, nach einer Zeit der Pracht und der Dekadenz, wie sie sich in der Serie „Babylon Berlin“ zu erkennen gibt.
In der neuen Verfilmung von „Berlin Alexanderplatz“ heißt der Franz zunächst Francis
Es ist nicht im strengen Sinn ein Bezug auf die „Flüchtlingskrise“, dass Qurbani die Hauptrolle an Welket Bungué vergeben hat, einen nahezu perfekten Repräsentanten postkolonialer Verhältnisse mit Bezügen zu Guinea-Bissau, Portugal, Brasilien und Deutschland. Der Franz muss hier erst zu seinem Namen kommen, er heißt anfangs Francis, und gehört zu einer Gruppe von Schwarzen mit prekärem Status, die illegal auf Baustellen arbeiten.
Der Drogenhandel (unübersehbar bezieht Qurbani sich auf geläufige Bilder aus dem Görlitzer Park) erweist sich als eine bessere Option, jedenfalls gaukelt das ein Mann namens Reinhold den Rechtlosen vor. Albrecht Schuch verleiht dieser Figur eine halb dämonische, halb groteske Dimension. Es ist ein Auftritt, der noch in der Übertreibungskunst des frühen Kinos wurzelt, und doch psychologische Nuancen zulässt. Zwischen Francis und Reinhold beginnt ein (Ohn-)Machtspiel, in dem sich wie in einer Entstellung viele Aspekte des Rassismus in Deutschland erkennen lassen.
Francis ist nicht einmal ein Antiheld, eher eine Leerstelle, auf die sich Projektionen richten. Die Liebe zu Mieze (Jella Haase) lässt Franz für eine Weile von einem normalen Leben träumen, und auch Mieze träumt diesen Traum, sie kennt aber zugleich schon dessen Ende: Denn sie ist die Erzählerin, ihre Stimme weiß schon alles über Francis, als die Geschichte erst beginnt.
Bei Döblin ging es darum, aus einem einfachen Mann eine Figur zu machen, auf die eine ganze Epoche einprasselt. Dieses Missverhältnis zwischen einem Einzelnen und einer Welt brachte er in einem wilden sprachlichen Mix zum Ausdruck. Burhan Qurbanis Film ist hingegen von einer zugänglichen Ästhetik geprägt, und bei aller Fatalität ist der Schwarze Franz Biberkopf genau die Figur, an der sich Deutschland gerade messen lassen könnte.
D 2020, 183 Min.; R. Burhan Qurbani; D: Welket Bungué, Albrecht Schuch, Jella Haase; Kinostart: 16.7.2020