Berlinale 2018 - Wettbewerb

Unser Meer

Mit der Romanverfilmung Transit rührt Christian Petzold an Flüchtlingsschicksale in unterschiedlichen Zeiten. Paula Beer und Franz Rogowski spielen die Hauptrollen
Im November 2017 publizierte die türkische Künstlerin und Zeitzeugin Banu Cennetoğlu eine Namensliste der Menschen, die seit dem Jahr 1993 bei ihrer Suche nach Sicherheit und menschenwürdigen Lebensbedingungen an und in den Grenzen von ­Europa ums Leben gekommen waren. Sie zählte 33.293 Tote – erdrückt, erstickt, ­erschossen, erfroren, verhungert, erschlagen, überfahren, untergegangen, ertrunken. ­Tausende davon im Mittelmeer, vor Italien, Spanien oder Frankreich.

Transit
Foto: Schramm Film/Marco Krueger

In Marseille, mit Blick auf das Meer und auf den Hafen, den es hier seit antiken Zeiten gibt, hat Christian Petzold im Sommer 2017 seinen Film „Transit“ gedreht, nach der gleichnamigen Vorlage der deutschen Schriftstellerin Anna Seghers. 1940 war die Stadt zum Sammelbecken europäischer Flüchtlinge geworden. Seghers (1900 – 1983), damals schon eine bekannte linke Autorin, war mittendrin. Mit ihren Kindern wartete sie auf ihren Mann, es war ein Wettlauf mit der Zeit. „Transit“ ­begann sie noch auf ihrer Schiffspassage ins mexikanische Exil zu schreiben.

Franz Rogowski und Paula Beer spielen die beiden Hauptfiguren in Petzolds Adaption, Georg und Marie, beide auf der Flucht vor den Nazis und französischen Kollaborateuren. Ihre ersten Begegnungen im Film sind schicksalhafte Missverständnisse. Sie berühren einander flüchtig, um sich gleich wieder zu verlieren.

Das Marseille von „Transit“ hat ein Gesetz, an dem man verzweifeln muss: Bleiben darf hier nur, wer weiter will. Gehen kann aber nur, wer zeitgerecht Affidavits, die Bürgschaften und Visa der Zielländer hat, wer sein Visa de sortie (Ausreisevisum) und vor allem die passenden Transits hat, die einem erlauben, die Länder auf dem Weg zum Ziel zu passieren. Fehlt ein Dokument in diesem „Urwald der Dossiers“, dann ist alles vergebens. Dann verliert auch das, was man schon hat, wieder die Gültigkeit.

Auf den historischen Fotografien der Atlantikpassagen dieser Jahre sind viele der Männer und Frauen so jung wie Rogowski und Beer, die jetzt 77 Jahre später in Petzolds Film in den Straßen Marseilles stehen. Aber die Zeitlinien sind hier verwirbelt. Petzold hat die Handlung des Romans verdichtet und – nur auf der visuellen Ebene – in die Gegenwart verschoben. Seine Figuren sind immer noch auf der Flucht vor den deutschen Faschisten, aber sie ringen mit modernen, französischen Sicherheitspolizisten, oder warten in Konsulaten der Gegenwart auf Bescheide. Der ­Transitraum hat sich erweitert, die Figuren sind aber ganz nah an der Historie geblieben.

„Marie ist entwurzelt“, sagt Paula Beer bei ­einem Treffen einige Wochen vor der Berlinale-Premiere über ihre Figur, „sie ist auf der ­Suche danach, wie es weitergeht. Zugleich sucht sie wieder nach einer Liebe, einem anderen Menschen. Aber sie will auch nicht realisieren, dass der andere, auf den sie gewartet hat, ­gestorben ist. Sie hält an einer Scheinwelt fest und geistert durch die Stadt, durch den Film. Sie hat etwas Ungreifbares.“

Stadt der Geister

Beer, die als Junkerstochter in „Poll“ (2010) und in Ozons Weltkriegsmelodrama „Frantz“ (2016) Erfahrung mit historischen Stoffen gesammelt hat, strahlt noch im Gespräch die Reife aus, die Petzold von Anfang an ihr faszinierte: eine junge Frau, die blitzschnell eine ganz erwachsene Aura wachrufen kann. Beers Ausdruckskraft ist gefragt. Auf der ­Berlinale ist die 22-jährige Schauspielerin auch in der Fernsehserie „Bad Banks“ zu sehen, in der Rolle einer Investmentbankerin unter Hochstress.

Franz Rogowski, der aufmerksam zuhört, als seine Spielpartnerin von der Ungreifbarkeit ihrer Figur spricht, spinnt Beers Gedanken weiter und zieht ihn in die Gegenwart: „Sie wirkt auch dadurch manchmal größer als die Wirklichkeit. Wie eine Projektionsfläche. Georg verkörpert wie die anderen Figuren auch eine Fluchtbewegung aus den Dreißigern, die ankommt in einem Marseille von heute, wo heute die Fluchtbewegung nach Europa stattfindet. Dadurch sind ­diese ­Figuren so aus der Zeit gefallen. Sie sind nicht nur, was ihre Beziehungen betrifft, Gespenster, wie Christian sie so oft nennt, sondern auch von ihrem zeitlichen Bezug her nicht klar verortet. Das macht die Situation als Spieler auch so besonders, weil wir aus der Zeit ­gefallene Figuren spielen, die aber eben auch neben einen Flachbildfernseher im Arbeitsamt stehen.“

Transit
Foto: Schramm Film/Marco Krueger

Rogowski, Tänzer, Choreograf und Bühnenschauspieler (auch als Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele), beeindruckt mit einer Mischung aus Zartheit und Kraft, die man schon in „Victoria“ oder „Love Steaks“ ­sehen konnte. Petzold setzte begeistert auf diese Präsenz und empfahl ihm Belmondos Auftritt in „Außer Atem“ als ein Rollenmodell. Für Rogowski ist die Berlinale 2018 ein Doppel- und Dreifachereignis: Neben ­„Transit“ wird er auch in einer Hauptrolle als Großmarktarbeiter im Wettbewerbsfilm ­„In den Gängen“ (Regie: Thomas Stuber) zu sehen sein. Und als europäischer „Shooting Star“ ist Rogowski ebenfalls nominiert.

In Anna Seghers’ „Transit“ findet die Figur, die er verkörpert, in der Hinterlassenschaft eines deutschen Schriftstellers einen unvollendeten Roman und zwei Briefe. Sie führen ihn nach Marseille, wo vielleicht rettende Visa warten und Marie, die Frau des Toten. „Transit“ ist ein außergewöhnlicher Roman. Nicht nur, weil Seghers darin selbst Stimmungen und Erlebnisse ihrer eigenen Fluchtgeschichte verarbeitete. Ihr Held hat auf den ersten Blick wenig Heroisches an sich hat. Vor drei Jahren aus dem Konzentrationslager geflohen, will er nicht mehr weiter rennen. Er ist müde, leer, beinahe gelangweilt von der Tragik rund um ihn – und wird dann doch berührt.

Petzolds Helden hatten immer schon Züge von Untoten, sind Wiedergänger und Schattenbilder, wie im Post-RAF-Film „Die innere Sicherheit“ oder zuletzt in seiner Geschichte der KZ-Überlebenden Nelly Lenz in „Phoenix“ (2014). „Transit“ war das letzte Projekt, das Petzold gemeinsam mit dem Filmemacher Harun Farocki entwarf, der seine ­Arbeiten jahrzehntelang als dramaturgischer Berater begleitet hatte. „Transit“ war Farockis Lieblingsroman. Der plötzliche Tod des ­Freundes im Jahr 2014 setzte eine schmerzhafte Zäsur. Und als Petzold das Projekt nach langer Pause wieder aufnahm, stellt sich die Frage der ­Historisierung noch einmal neu.

Christian Petzold
ZUM VIERTEN MAL nimmt der derzeit international wohl am meisten beachtete deutsche ­Autorenfilmer an einem Berlinale-Wettbewerb teil. 2012 gab es für „Barbara“ einen Silbernen ­Bären für die Beste Regie. Petzold studierte an der DFFB und fand 2000 mit dem RAF-Drama „Die innere Sicherheit“ erstmals größere Aufmerksamkeit. Er dreht auch Krimis in der „Polizeiruf 110“-Reihe.
Foto: Marco Müller

Zwei Tage nach der Begegnung mit Beer und Rogowski sitze ich dem Berliner Regisseur in einem Kreuzberger Café gegenüber, dessen freigelegte Ziegelwände auch ein Stück Patina ins Neue holen. Im Nachdenken über urbane Landschaften hat Petzold vor Jahren eine Leitmetapher seiner Arbeit gewonnen. „Das Alte und das Neue stehen in unseren Stadtbildern nebeneinander, und das ist auch politisch so: Die Flüchtlinge, die 1940 vor den Nazis flohen und in Casablanca, Marseille oder Lissabon festhingen, korrespondieren mit den Flüchtlingen heute. Die Gesetze, die die Rechten zu verändern versuchen – das Grundgesetz, das Recht auf Asyl –, stammen aus dieser Zeit. Das Heute und das Vergangene sind gleichzeitig da, wie in den Stolpersteinen in den Berliner Straßen, die von den Deportationen einzelner Menschen erzählen. Ich dachte beim Film: Ich fahre heute da hin. Die Menschen im Film sind auf der Flucht vor den Faschisten, die warten auf ihre Transitvisa und gleichzeitig ist das im heutigen Marseille.“

Die Idee liegt nahe, dass sich „Transit“ durch die Zeit bewegt, wie Walter Benjamins Engel der Geschichte, der vom Sturm der Vergangenheit erfasst, immer weiter nach vorne getrieben wird. Benjamin hatte dieses Gedankenbild entworfen, als er selbst auf der Flucht war. Im September 1940 nahm er sich an der spanisch-französischen Grenze das Leben, als ihn die spanischen Grenzbehörden wieder zurückschicken wollten. Er war aus Marseille gekommen. Seghers gelang ein halbes Jahr später die Flucht. In Petzolds Film weht der Wind aus beiden Richtungen. Aus der Vergangenheit in die Gegenwart, aus der Gegenwart in die Vergangenheit.

„Der Film rekonstruiert nicht, sondern sagt: So ist es. Augen auf.“ Ohne Umweg über ein Reenactment. „Wir sind heute noch da“, sagt Petzold am Ende unseres Gespräches voller Emphase. „Wenn die Gespenster des Deutschen Herbstes mit dem Volvo (Anm. in „Die innere Sicherheit“) durch die Bundes­republik fahren, oder wenn die Flüchtlinge des Jahres 1940 in Marseille stehen, dann ist die Geschichte nicht vergangen. Sie ist da. Und wenn wir die Augen aufmachen, dann spüren wir sie.“

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