Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz aus dem Jahr 1929 wird in Burhan Qurbanis neuer Interpretation zu einer Parabel auf die Gegenwart des globalen 21. Jahrhunderts. Die beiden Hauptdarsteller Welket Bungué und Jella Haase erzählen im tip-Interview davon, wie sie sich das Buch erschlossen haben, und was der Film für ihren Weg als Schauspieler bedeutet
Welket Bungué kam 1988 in dem westafrikanischen Land Guinea-Bissau zur Welt. Er wuchs in Portugal auf und begann dort in den Nuller-Jahren mit seinen vielfältigen künstlerischen Tätigkeiten: als Theaterschauspieler, Performancekünster und Regisseur einiger Kurzfilme. 2017 war er Teil des Ensembles des Spielfilms „Joaquim“ von Marcelo Gomes, der am Berlinale-Wettbewerb teilnahm.
Jella Haase wurde mit der Rolle der Chantal in der Komödienreihe „Fack Ju Göhte“ berühmt. Die gebürtige Berlinerin, Jahrgang 1992, fiel 2011 in „Kriegerin“ erstmals einem größeren Publikum auf, 2013 spielte sie in einem Tatort eine minderjährige Prostituierte. Seit 2019 ist sie Mitglied im Ensemble der Berliner Volksbühne.
Als vor wenigen Wochen die 20er-Jahre begannen, waren naturgemäß die 20er-Jahre in aller Munde: Das Jahr 2020 blickt auf das Jahrzehnt zwischen 1920 und 1929 zurück, und sucht nach Verständnishilfen für eine unübersichtliche Gegenwart. Das war schon bei der Serie Babylon Berlin so, die in diesen Wochen das Jahr 1929 zu einem dramatischen Ende bringt.
Der eigentlich kanonische Text zu dieser Zeit kurz vor dem Beginn der nationalsozialistischen Katastrophe ist jedoch Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, erschienen 1929. Ein Mann namens Franz Biberkopf, der einige Jahre wegen Totschlags in Tegel im Gefängnis gewesen war, wird auf Berlin losgelassen. Er schwankt zwischen radikaler Einschüchterung und unrealistischen Träumen, letztlich will er sich aber einfach nur ein kleines Leben schaffen, in dem er vor dem Gewimmel der Stadt ein wenig Sicherheit findet.
Diese prototypisch moderne Romanfigur, zwischen Handlungsmacht und Ohnmacht, wurde im deutschen Kino immer wieder interpretiert, unvergessen ist die Fernsehserie von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1980. Burhan Qurbani, der damals gerade geboren wurde, holt „Berlin Alexanderplatz“ nun in die Gegenwart – mit einem schwarzen Franz (Francis) Biberkopf.
tip Herr Bungué, wie kamen Sie zu der Rolle von Francis?
Welket Bungué Ich habe 2017 in Rio de Janeiro gelebt. Eines Tages kam eine E-Mail von einer deutschen Produktionsfirma, es sah für mich zuerst aus wie Spam. Es hieß, dass man mich auf der Berlinale 2017 in dem Film „Joaquim“ von Marcelo Gomes gesehen hatte. Und dann die Bitte, ich sollte eine Videoaufnahme von mir machen, auf der ich einige Wörter auf Deutsch sagen sollte, zum Beispiel Brot. Ich nahm die Sache nicht besonders ernst, denn ich dachte, es wäre unmöglich, dass ich in einem deutschen Film mitspielen könnte. Aber meine Partnerin ist aus Deutschland, sie meinte, ich sollte das Video auf jeden Fall machen, und half mir auch dabei. So kam es, dass ich tatsächlich zu einem Live-Casting nach Deutschland eingeladen wurde.
tip Wussten Sie damals, dass Jella Haase durch die Komödienreihe „Fack Ju Göhte“ in Deutschland sehr populär ist?
Welket Bungué Nein, davon wusste ich gar nichts.
tip Wurde Döblin bei Ihnen in der Schule gelesen?
Jella Haase In meiner Schule kam es nicht vor, ich habe den Roman erst für die Vorbereitung gelesen, aber der Titel ist geläufig, und die Fassbinder-Serie kannte ich auch. Für mich war es spannend, diesen bekannten Stoff auf eine neue Weise zu machen.
tip Es gibt verschiedene Versionen von „Berlin Alexanderplatz“ aus unterschiedlichen Zeiten. Fast könnte man sagen: Der Stoff begleitet das Land durch die Geschichte.
Jella Haase Das macht es für mich so spannend: eine heutige Perspektive darauf zu finden. Egal, woher jemand kommt, die Probleme sind immer dieselben: Wie bleibt man ein guter Mensch in einer Welt voller Bosheit?
Welket Bungué Es ist visionär, so ein archetypisches Buch in den Kontext unserer Zeit zu stellen. Wir haben versucht, soziale Probleme wie Inklusion oder Exklusion, aber auch Politik im weiteren Sinn auf eine Ebene zu bringen, von der viele Menschen in ihrem Alltag in Deutschland nicht so viel wissen.
tip Ist Francis ein Flüchtling wie so viele Menschen, die aus Not nach Deutschland kommen?
Welket Bungué Er ist nicht geflüchtet. Er kommt von anderswo. Von außen. Wir wollen dieser Welt ohne falschen Moralismus eine neue Bedeutung geben, mit unseren Körpern und mit unserer Sensibilität. Er kommt als Fremder in eine Stadt und muss sich hier zurechtfinden.
Jella Haase Und er muss damit umgehen, wie andere Leute ihn sehen und erwarten, wie er sich verhält.
tip Herr Bungué, inwiefern bringen Sie eigene Erfahrungen in die Rolle ein?
Welket Bungué Ich bin vor allem Künstler. Ich habe einen Migrationshintergund, meine Eltern gingen aus Guinea-Bissau nach Portugal. Ich habe einen europäischen Pass, das erleichtert alles. Mein Verhalten, meine Anliegen sind aber nicht nur mit dem europäischen Territorium verbunden. Ich bewege mich hier in einer Sprache, die nicht die meine ist. Als Künstler bin ich privilegiert, denn es ist meine Aufgabe, solche Erfahrungen zu verkörpern. Es ist auch eine Übung in Bescheidenheit, wenn wir unsere Stimmen, unser Wissen, unsere Technik mit solchen Erfahrungen verbinden.
tip Frau Haase, worin lag die Herausforderung für Sie als noch junge Schauspielerin bei diesem Film?
Jella Haase Als ich das Drehbuch bekam, war mir unmittelbar klar: Ich muss Mieze spielen. Da war eine Leidenschaft und Kraft dahinter, die mich fesselte. Auch etwas Irres. In den letzten zwei, drei Jahren habe ich angefangen, meinen Beruf anders zu begreifen, wenn man das überhaupt so sagen kann. Davor habe ich eher gemacht, wie es gekommen ist. Sehr intuitiv, unbewusst wissend vielleicht. Nun entwickle ich eher ein Bewusstsein für mein Handwerk. Es gab eine lange Vorbereitungsphase, wir haben uns intensiv in das Projekt vertieft und viele Bücher gelesen. Das hat mich alles unglaublich bereichert. Ich war auch eine Weile mit dem Drehbuch in New York und habe dort mit einem Coach gearbeitet. Und auch bei den Dreharbeiten haben wir nie aufgehört zu suchen, hatten nie das Gefühl, fertig zu sein.
tip Könnten Sie ein Beispiel für die Vorbereitung im Detail nennen?
Jella Haase Ich habe ein Buch gelesen von einer Frau, die über ihre Arbeit als Prostituierte schreibt, sie ist eine Sexarbeiterin, die das aus freien Stücken macht und ihre Rolle reflektiert. Das war zum Beispiel eine Perspektive.
Welket Bungué Ohne zu urteilen. Wir können den Film als eine Parabel sehen, wie sich die Macht in der Welt organisiert.
Jella Haase Er geht tiefer, eben unter die Oberfläche, schaut dahin, wo bei vielen der Blick aufhört.
tip Berlin Alexanderplatz ist nicht zuletzt einer der wichtigsten Berlin-Romane. Wie erleben Sie die Stadt heute?
Jella Haase Ich liebe diese Stadt, ich bin von hier und bin hier aufgewachsen. Berlin ist für mich Heimat. Ich fühle mich hier wohl. Ich habe hier meine Freunde, aber man kann sich auch leicht in der Stadt verlieren, sich von ihr verschlingen lassen in einer beständigen Party. Man kann aber auch viele Künstler treffen und kreativ sein. Man muss sich manchmal ganz schön aufraffen, um Prioritäten zu setzen. Das gehört dazu. Wahrscheinlich zu allen Schritten, die man geht.
Welket Bungué Meine Partnerin ist Deutsche, das prägt meine Beziehung zu Berlin. Diese Produktion hat mir die Gelegenheit gegeben, Berlin besser kennenzulernen. Ich konnte objektiver sein, mir Notizen machen, und ein bisschen auf beobachtende Distanz bleiben. Was Jella sagt, verstehe ich gut, ich feiere auch gern, aber ich möchte die Stadt auch verstehen. Die sozialen Aspekte zwischen den 20er-Jahren und heute sind sehr unterschiedlich, heute ist die Stadt sehr kosmopolitisch. Unser Regisseur Burhan Qurbani kommt auch aus diesem „melting pot“, der Berlin heute ist.
tip 2015 gab es in Deutschland eine sogenannte Flüchtlingskrise. Spielt das in Ihr Verständnis des Films hinein?
Jella Haase Das Thema begleitet mich die ganze Zeit, denn diese Bewegungen gibt es nun einmal, und die gab es auch schon davor. Europa ist eben auch dafür verantwortlich, dass die Ursachen für diese Bewegungen bekämpft werden. Dass Menschen als Menschen gesehen und nicht als Labels wie Flüchtling, Migranten etc. abgestempelt und wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung und die populistische Kommunikation, die dazu zum Teil stattfinden, erschrecken mich und gehören verbannt.
tip Schauen Sie auch „Babylon Berlin“? Die Serie spielt zur gleichen Zeit wie Döblins Roman und wird häufig als Schlüssel zu unserer Gegenwart interpretiert.
Jella Haase Ich mochte die Serie sehr, aber ich habe sie aus keiner erzieherischen Perspektive gesehen.
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