Es kennt wohl fast jeder dieses Gefühl, wenn man sich selbst auf Kassette, auf dem Diktiergerät oder – heutzutage noch eher – in der Elektro-Sprachnachricht hört und sich denkt: „Bin das wirklich ich? Klingt meine Stimme so seltsam?“ Das ist nicht mal Einbildung, sondern ein physikalischer Prozess der Klangfrequenzen: Da nämlich beim Sprechen auch der eigene Körper samt Schädelknochen den Schall leitet, hört man sich derweil selbst doch sehr anders als alle anderen, die einem lauschen. Inés indes ist von Berufs wegen bestens mit ihrer Stimme bekannt: Sie singt nicht bloß im Chor, sondern arbeitet professionell als Synchronsprecherin, wo es auf jeden Hauch einer Nuance ihres Stimmausdrucks ankommt.

Doch während Horrorbilder über die Studioleinwand schwirren und Inés bei nächtlich dämmrigem Licht ihre Synchronzeilen einspricht, mischt sich tatsächlich etwas in ihre Stimme ein. Sie selbst realisiert es zunächst nicht, doch der Ton-Ingenieur weist sie irritiert darauf hin. Kein Handy ist schuld, keine Rückkopplung, keine Herzfrequenzstörung. Der Ingenieur spielt die Sequenzen in Zeitlupe, also runtergepitcht, nochmals ab, und der Schauer entfaltet seine volle Macht.
Die argentinische Regisseurin und Drehbuchautorin Natalia Meta braucht in ihrem zweiten Langfilm (nach dem gefeierten „Mord in Buenos Aires“ von 2014) nur ganz wenig körperliche Gewalt und konventionelle Schockmomente, um doch sehr viel psychische Verwirrung und Gewalt in Szene zu setzen. Das ist eine Leistung! Man beginnt zu rätseln: Welche Menschen, die Inés sieht, sind echt? Was bewirken die Tabletten, die sie schluckt? Was hat sie so traumatisiert? Und was tut diese magisch-realistische Schlange ihr an, die unter der Bettdecke scheinbar in sie eindringt? „El profúgo“ heißt ja auch: der Eindringling. Bisweilen bewegt sich der Film bei allen visuellen und vor allem darstellerischen Stärken von Érica Rivas als Inés doch auch auf einem schmalen Grat zum Psycho-Trash. Ob das alles immer freiwillig oder unfreiwillig komisch ist, wird nicht ganz klar. In weiten Strecken aber sieht man hier doch das Schauerporträt einer Frau, die akut neben sich steht. Es vermittelt sich eindringlich, dass ihr (Klang-)Bild von der Welt auf eine beunruhigende Weise nicht mehr stimmt. Doch es entlässt einen der Film interessanterweise mit Frage-Impulsen dazu, ob es ihr damit eigentlich schlechter oder besser geht. Stefan Hochgesand

Termine: „El prófugo“ bei der Berlinale
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