Großes Missverständnis: der Fehlglaube, queere Stoffe seien in den Massenmedien angemessen angekommen. Schnell fallen einem die Oscar-Gewinner „Call Me by Your Name“ und „Moonlight“ ein – und die tollen Streamingserien „Pose“, „Transparent“ und „Sex Education“. Dann ist schnell Schluss
Die Malisa-Studie kam 2017 zum Ergebnis, dass queere Stoffe im deutschen Fernsehen und Kino weniger als 0,2 Prozent ausmachen. Das steht in einem peinlichen Verhältnis dazu, dass rund zehn Prozent der Menschen queer sind. Peinlich für die Filmförderung und die Senderredaktionen, dass sie die Lebensrealität all dieser Menschen für nicht erzählenswert befinden.
Das Panorama der Berlinale ist dankenswerterweise anders drauf – und gibt queeren Stoffen schon seit vielen Jahren eine große Bühne, pardon, Leinwand. Damit waren sie wohl auch Tastemaker fürs komplette Festival, denn seit zwei, drei Jahren findet man in allen Sektionen queere Filme, auch im Wettbewerb, wo 2020 „Rizi“ aus Taiwan läuft. „Alle hier sind sich dessen bewusst, welchen positiven Drive das für das Festival hat“, sagt Michael Stütz, neuer Leiter des Panoramas. „Was für ein Alleinstellungsmerkmal für die Berlinale!“ Hier wird mit dem Teddy Award am 28.2. ja auch der weltwichtigste queere Filmpreis verliehen, zum 34. Mal schon, dieses Jahr wieder in der Volksbühne.
Lesbische Liebesgeschichte „Kokon“ mit Jella Haase
Bei der ganzen Berlinale sind es 2020: 24 Langfilme, acht Kurzfilme und drei Serien mit queeren Facetten. Gemessen an den genannten zehn Prozent sind das immer noch zu wenige Langfilme – aber es geht in die richtige Richtung. Mit besonderer Spannung erwartet wird die lesbische Liebesgeschichte „Kokon“ mit Jella Haase in der Sektion Generation 14plus, die rund um den Kotti spielt.
Ein Drittel des Panorama-Programms ist queer. Was fällt auf an Trends? Viele Debüts. „Es kommt eine jüngere, aufstrebende Generation“, sagt Michael Stütz, „die einen akuten Blick für sozialen Wandel hat – und etwas sehr Widerständiges. Es werden mehr Themen mitverhandelt: Klasse, Religion, Migration. Es geht weniger um den klassischen Coming-Out-Prozess. Die Geschichten sind breiter aufgestellt.“
So auch beim Eröffnungsfilm „Las Mil y Una“ aus Argentinien. Es ist das Porträt zweier junger Frauen und einer queeren Clique in einer Sozialbausiedlung. Väterliche Autorität ist nicht vorhanden. Armut, Klasse, HIV sind Themen. Auch Cyber-Bullying. Der deutsche Beitrag Futur Drei von Faraz Shariat erzählt aus einer postmigrantischen Perspektive: Parvis, der auf Grindr-Dates mit anderen Männern steht, ist Deutsch-Iraner. Durch die geflüchteten Geschwister Banafshe und Amon setzt er sich neu mit seiner Herkunft auseinander.
„Suk Suk“ porträtiert ein älteres schwules Liebespaar in Hongkong – und deren Community dort. „Vento Seco“ aus Brasilien erzählt von einem unterdrückt schwulen Protagonisten, der in einer ausgetrockneten Gegend in einem Düngemittelkonzern arbeitet. Ausschweifende Träume kontrastieren mit dem Alltag. Dokumentarisch fällt das Thema Transidentität auf, mit „Always Amber“ und „Petite Fille“. Der Spielfilm „Kød & Blod“ ist in erster Linie ein Familienthriller, dänische Mafia quasi. Aber es ist ein queerer Subplot eingeflochten: Ida, androgyn-tomboyish, verknallt sich in die Freundin eines ihrer Stiefbrüder. Das ist nicht das Hauptthema, aber es kommt mit einer großen Selbstverständlichkeit eben auch vor. Queers leben nun mal nicht isoliert, sondern in derselben Welt wie alle anderen auch.
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