Berlinale 2020

Wettbewerb: Rezension von Sally Potters „The Roads Not Taken“

Die britische Regisseurin Sally Potter schickt Javier Bardem und Elle Fanning in ein zwischen Halluzinationen und Realität feinsinnig gesponnenes Geflecht aus möglichen Lebenswegen 

© Jeong Park / Bleecker Street

Die amerikanische Schauspielerin Elle Fanning ist gerade einmal 21 Jahre alt, und doch liegt bereits eine achtzehnjährige Filmkarriere hinter ihr. Seltsamerweise hat man sie überhaupt nicht als Kinder- oder Teenager-Star in Erinnerung: Fanning wirkte in ihren Rollen immer viel erwachsener und reifer, als es ihrem tatsächlichen Alter eigentlich entsprochen hätte. In gewisser Weise trifft dies auch auf ihre Rolle in Sally Potters Wettbewerbsbeitrag „The Roads Not Taken“ zu, auch wenn Fanning in der anschließenden  Pressekonferenz meinte, dass sie ihre Figur nicht als eine bereits endgültig gefestigte Person sehe.

Die Schauspielerin verkörpert Molly, die Tochter des mexikanischen Schriftstellers Leo (Javier Bardem), der allein in einer Wohnung in New York lebt und mittlerweile unter einer Demenz leidet. Es gibt eine gelegentliche Pflegekraft, doch es scheint vor allem Molly zu sein, die die Verantwortung für die Organisation von Leos Alltag übernommen hat: Der Film folgt ihr und ihrem Vater durch einen Tag, der ausgefüllt ist mit Arztbesuchen und diversen Komplikationen, die sich durch Leos Persönlichkeitsveränderung ergeben.

Doch „The Roads Not Taken“ ist kein Demenz-Film, sondern er nimmt vor allem seinen Titel ernst. Es geht um Lebenswege: jene, die man eingeschlagen hat oder eben auch nicht, jene, die die einem durch die Umstände aufgezwungen wurden, und jene, für die man sich man vielleicht hätte entscheiden können. Für Außenstehende – und selbst für Molly – kaum noch zu verstehen, halluziniert Leo die wichtigsten Momente und Aspekte seines Lebens: die von einer Tragödie überschattete Beziehung zu seiner Jugendliebe Dolores (Salma Hayek) sowie ein Aufenthalt in Griechenland, für den er seine zweite Frau Rita (Laura Linney) und Molly vorübergehend verlassen hatte, um dort schreiben zu können.

Durch Geräusche oder Lichtstimmungen stimuliert, driftet Leo ab in seine Erinnerungen und Alternativ-Fantasien, während Molly sich darüber klarwerden muss, wie es mit ihrem eigenen Leben weitergehen soll, das mit der Zeit und Nerven kostenden Pflege des Vaters nur noch schwer zu vereinbaren scheint. Konsequenterweise gibt es am Ende eine kurz irritierende Einstellung: eine Molly, die geht, und eine Molly, die bleibt.

Wie alle Filme von Sally Potter ist auch „The Roads Not Taken“ extrem sorgfältig konstruiert, man könnte auch sagen: komponiert. Hier steht alles mit allem irgendwie in Verbindung, ergeben sich ständig neue Denkansätze. Und die Regisseurin hat das Glück (und das Geschick), mit Javier Bardem und Elle Fanning zwei Schauspieler*innen engagiert zu haben, die die Intellektualität des Konzepts auch in Emotion umsetzen können. Das ist nicht spektakulär, aber sehr feinsinnig und irgendwann auch durchaus anrührend. Lars Penning

Termine: The Roads Not Taken bei der Berlinale


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