Ulrike Ottinger zählt mit ihren unangepassten Bildwelten in Spielfilmen wie „Madame X“ (1979) oder „Freak Orlando“ (1981) zu den bedeutendsten deutschen Filmautorinnen. Ihr autobiografischer Dokumentarfilm „Paris Calligrammes“ hat auf der 70. Berlinale Premiere. Zudem wird Ottinger mit der Berlinale Kamera für ihr Lebenswerk geehrt.
tip: Frau Ottinger, In Ihrem neuen Film befassen Sie sich mit prägenden Jahren: Ihren 20ern, die Sie in Paris verbrachten. Fiel Ihnen das Sortieren dieser intensiven Zeit schwer?
Ulrike Ottinger Es war sicher einer der schwierigsten Filme, die ich je gemacht habe. Denn ich habe nur wenig mit eigenem Material gearbeitet. Ich habe zwar auch zehn Tage lang in Paris gedreht, um Orte aufzusuchen, die für mich persönlich von Bedeutung waren. Aber Paris hat sich verändert und mancher Ort, der für mich emotional besetzt ist, erwies sich als visuell nicht sehr attraktiv. Ich musste also vieles weglassen.
tip: Sie erzählen vor allem mittels einer Fülle spannender Archivfundstücke aus dieser Ära.
Ulrike Ottinger Meine Hauptarbeit bestand darin, dass ich 400 bis 500 Filme gesehen habe, um das zu finden, was die Atmosphäre der Zeit wiedergibt. Ich fand es in Spielfilmen, Dokumentationen, teils auch in Nachrichtensendungen.
tip: Sie haben den Film in zehn Kapitel gegliedert mit Überschriften wie „Kosmos Kino – die Cinémathèque Française“ oder „Meine Pariser Freunde und das algerische Trauma“. Hatten Sie von Anfang an einen roten Faden?
Ulrike Ottinger Meine Themen wusste ich. Ich hatte mir sehr viele Notizen gemacht. In den Archiven habe ich dann thematisch gesucht. Beispielsweise nach Orten, wo ich gewohnt habe, wie die Rue de la Sorbonne Ecke Rue des Écoles – ein Hot Spot in der damaligen Zeit. Das Problem: Ich entdeckte in den Filmen diese Orte, sah mir den Film dann ganz an und fand wieder etwas anderes, das für ein weiteres Thema interessant war! So hatte ich am Ende einen riesigen Berg Material, und ich habe es immer wieder umgeschnitten. Es gab einfach so viele Möglichkeiten!
tip: Hatten Sie Angst, die Übersicht zu verlieren?
Ulrike Ottinger Das Logistische allein hat meine Cutterin und mich an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. Die andere Frage war: Wie bilde ich etwas ab, das mich damals bewegt hat? Das Schwere war ja, alles aus Material zu konstruieren, das nicht mein eigenes ist, aber das zu meinem eigenen werden musste. Ich habe ja in dieser Zeit noch keine Filme gedreht, sondern bildkünstlerisch gearbeitet. Damals begann erst meine Faszination für den Film: durch die Cinémathèque. Ich habe das Kino, das kann man so sagen, in Paris entdeckt.
tip: Sie verließen Paris 1969 an einem Tiefpunkt.
Ulrike Ottinger Es gab eine unglaublich starke Ideologisierung. Das machte den Dialog nicht mehr möglich. Damals habe ich Freundschaften verloren, weil man nicht mehr miteinander sprechen konnte. Mich haben die Brutalitäten der Maoisten und der Marxistes-Léninistes entsetzt.
tip: Worin lag der Unterschied zu den Kreisen, in denen Sie selbst verankert waren?
Ulrike Ottinger Nun ich kannte aus Fritz Picards „Librairie Calligrammes“ viele der alten Marxisten. Aber sie alle waren keine Stalinisten. Sie wussten, was Stalinismus ist – viele der Intellektuellen und Schriftsteller waren Spanienkämpfer gewesen; sie fielen nicht darauf herein. Ich war nicht nur durch mein Elternhaus, sondern auch durch die Gespräche in der „Librairie“ gegen solche Radikalisierungen gefeit. Wie immer ist es wichtig, die Dinge zu differenzieren, sich nicht stur einem politischen Lager zuzuordnen, sondern zu diskutieren. Das ist in allen sozialen Bereichen so, dass man die Dinge gut kennen muss, bevor man ein Urteil fällen kann. Das ist auch heute unser Problem. Radikalisierungen rühren daher, dass die Leute keine Edukation mehr haben und nicht wissen, worüber sie sprechen.
Wichtige Filme von Ulrike Ottinger
Chamissos Schatten (2016) Persönlicher Blick auf polare Regionen
Taiga (1992) Ein Besuch bei mongolischen Nomaden
Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984) Machtspiele eines Medienkonzerns
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