Berlinale 2022

„Drii Winter“ von Michael Koch: Unkonventioneller Schweizer Liebesfilm

Eine unerhörte Liebe: „Drii Winter“, der zweite lange Spielfilm des Schweizer Regisseurs Michael Koch, erzählt von Anna (Michèle Brand), die sich in der konservativen Bergwelt der Schweizer Alpen ausgerechnet in einen Fremden verliebt – und auch zu ihm hält, als er mit einem Gehirntumor diagnostiziert wird. tipBerlin-Autor Stefan Hochgesand hat sich das unaufgeregte Drama im Wettbewerb der Berlinale angesehen.

Schön, aber gnadenlos: die Schweizer Alpen in „Drii Winter“. Foto: Armin Dierolf/hugofilm

In „Drii Winter“ kann die Leute kaum etwas erschüttern

In der grasgrünen Berglandschaft hängt Nebel. Die Kamera hat einen Gesteinsbrocken fokussiert. Aus dem Off ertönt ein Choral. Dramatisch. Die Kameraperspektiven, die in „Drii Winter“ folgen, sind oft durch starke Auf- oder Untersicht geprägt, will heißen: Es ist ganz schön steil hier. Die Schwerkraft zieht zum Abgrund. Doch die Männer im bergigen Gelände wissen, was zu tun ist: Man hat den Schraubenzieher und die Axt fest im Griff, um sich die Natur und das Menschgemachte zurechtzuformen, zu kultivieren, wie man es braucht, also wie es zu sein hat. Davon werden wir in „Drii Winter“ noch viel sehen. Drei Winter lang.

Die Menschen hier im Schweizer Bergdorf kann der vorhersehbare Lauf der Jahreszeiten nicht erschüttern. Nicht Regen, nicht Schnee, nicht Ernte- oder Schlachtzeit: Gekonnt fällt man Bäume mit der Kettensäge und lässt die Kuh besamen. Ein Fremdkörper in diesem Lauf ist Marco (Simon Wisler) aus dem Flachland, aus Willisau, der in der Dorfkneipe nicht am Stammtisch sitzt, sondern eigenbrötlerisch daneben seinen Eistee ordert statt Bier. Nervös tippt er mit einem Finger auf dem Tisch. Auch Mundwinkel und Augenlider zittern leicht. Marco ist der Neue von Anna (Michèle Brand), die hinterm Tresen arbeitet. Schon mit Mike, von dem sie ein Kind hat, hat es nicht geklappt, warum sollte es diesmal, mit diesem Fremden?

Michèle Brand in „Drii Winter“ von Michael Koch Foto: Armin Dierolf/hugofilm

„Drii Winter“: Leben und Liebe in der gnadenlosen Dorfwelt

Viele ihrer wortkargen Gespräche enden im Schweigen. Doch die beiden glauben aneinander. Es gibt Momente großen Glücks, etwa (imaginierten?) Sex auf der Alm – oder wenn sie zusammen bei der Autofahrt auf der Bergstraße den Früh-90er-Disco-Schmachtfetzen „What Is Love“ von Haddaway mitsingen – „baby don’t hurt me“. Nein, gemessen an ihrem schüchternen Temperament muss man schon sagen: mitgrölen. Ebenden Song, zu dem sie in der Hochzeitsnacht nur zaghaft müde Discofox getanzt haben.

Doch etwas stimmt nicht: Marco verliert seinen Bauernhofsjob, wohl, weil er wen gestoßen hat. Er tut zunehmend gruselige Dinge, die indiskutabel sind. Liegt das alles an dem Hirntumor, den das MRT zeigt? Ist Marco noch der Mensch, in den sich Anna verliebt hat? Als ein indisches Drehteam in den Bergen eine kitschige Bollywood-Szene dreht, scheint sich Anna (zurück) nach Leichtigkeit zu sehnen – aber dennoch hält sie zu Marco.

Ob die Berlinale diesen unkonventionellen Liebesfilm absichtlich auf den Valentinstag programmiert hat? „Drii Winter“ ist die Geschichte einer unerhörten Liebe, die, obgleich sozial geächtet, irgendwie standhält. Mit vielen Ambiguitäten: Ist Anna besonders stark, da sie dem Druck des Dorfes nicht nachgibt? Oder ist sie abhängig von ihrem Marco? „Drii Winter“ liefert da keine Klischee-Urteile. Die Dorfwelt erscheint gnadenlos, doch bitterböse keineswegs. Überhaupt erzählt der zweite Langspielfilm von Regisseur Michael Koch, Jahrgang 1982, obwohl er so einige Tabus antastet, über 136 Minuten hinweg ganz unaufgeregt. Das dürfte der Bärenjury gut gefallen.


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