Berlinale 2022

Fiktionsbescheinigung: Ein Gespräch mit Enoka Ayemba und Biene Pilavci über die Filmreihe

Zum zweiten Mal nach 2021 zeigt das Internationale Forum des Jungen Films bei der Berlinale eine Reihe, die neben dem regulären Programm einen neuen Blick auf die Filmgeschichte Deutschlands wirft: „Fiktionsbescheinigung“ versucht, Ausschlüsse zu revidieren und den Kanon neu zu denken. Vom ursprünglich fünfköpfigen Auswahlteam sind nun zwei geblieben: Biene Pilavci und Enoka Ayemba. Für den tipBerlin hat Bert Rebhandl mit ihnen über Rassismus und Diversität in der deutschen Filmbranche gesprochen, und über eine der Entdeckungen in ihrer Reihe, den Film „Durch die Wüste“, entstanden in Berlin 1987.

„In der Wüste“ (1987) von Rafael Fuster Pardo. Foto: Berlinale

„In der Wüste“: Filmentdeckung bei „Fiktionsbescheinigung“

tipBerlin Ich würde gern den Film „In der Wüste“ von Rafael Fuster Pardo als Beispiel nehmen. Wie sind Sie auf den gestoßen, und warum zeigen Sie ihn?

Biene Pilavci Als wir 2021 die erste Reihe unter dem Titel „Fiktionsbescheinigung – 16 filmische Perspektiven auf Deutschland“ für das Forum kuratiert haben, schöpften wir vor allem aus unseren persönlichen Filmschätzen, unserem Filmwissen und aus Entdeckungen in den vergangenen Jahren. Für die zweite Reihe mussten wir ein bisschen methodischer vorgehen. Ich habe in den Archiven der DFFB, dem Arsenal und Nanna Heidenreichs Filmindex aus ihrem Buch V/Erkennungsdienste recherchiert. Enoka hat an der Münchner Filmuniversität (HFF Filmarchiv) recherchiert. Konrad Wolff in Potsdam hatten wir schon letztes Jahr ausgeschöpft. (Natürlich ist es zu hinterfragen, ob so eine „Methode“ gerechtfertigt ist, angesichts der Tatsache, dass wir ja eben jene Filme suchen, die möglicherweise von niemandem gesehen worden sind, aber die Umstände gaben leider nicht mehr her.)

Ich habe jedenfalls in den Beständen alle Namen, die ich nicht als herkunftsdeutsch gelesen habe, herausgefiltert und geschaut, ob es zu ihnen In Informationen gibt im Netz. Einer dieser Namen war Rafael Fuster Pardo. Die Stiftung Deutsche Kinemathek hatte eine Sichtungs-VHS und eine unbefundete 16 mm-Filmkopie von seinem dffb-Abschlussfilm In der Wüste. Die VHS haben wir vor Ort gesichtet. Der Film war von Anfang an ein Augenöffner. Kameraschwenk (ebenfalls Fuster Pardo) über winterliches Berlin, warme Panflötenmusik, offenes Fenster in die Bleibe zweier Künstler, Fernando und Timur, offensichtlich mittellos. Die Figuren sind ein bisschen angelehnt an Estragon und Wladimir aus Warten auf Godot von Samuel Beckett, der eine ist eher lethargisch, der andere hat immer Pläne. Und so erleben wir auf eine lakonisch pointierte Art 24 Stunden aus ihrem entbehrungsreichen Dasein.

tipBerlin Wer ist Rafael Fuster Pardo, und wie kam er nach Berlin?

Biene Pilavci Er kam als zehnjähriger katalanischer Junge nach Travemünde zu seinen Eltern, die waren schon ein Jahr vorher da als Gastarbeiter. Sein Vater war Schweißer. Fuster Pardo ging nach der 5. Klasse von der Schule ab und begann eine Elektrikerlehre. Das Abgehen war überhaupt nur möglich, weil die damaligen so genannten Ausländergesetze keine Schulpflicht beinhalteten. Es folgte eine weitere Ausbildung als Baukonstrukteur in einem Ingenieurbüro. Über Umwege und mithilfe eines NDR-Redakteurs hat es ihn an die DFFB verschlagen. Doch die damaligen Ausländergesetze haben ihn gezwungen, jede Arbeit anzunehmen, denn es war zu Beginn zum Beispiel kein Bafög für Gastarbeiterkinder vorgesehen.

Aus meiner Sicht konnte sich Fuster Pardo in seinem Filmstudium gar nicht entfalten, weil er einfach zum Broterwerb gezwungen war. Für seinen Abschlussfilm hat er das Drehbuch „Der Millionste“ geschrieben, wo er auch die Regie übernehmen wollte. Es wäre dabei um eine Klamotte zum eine millionsten Gastarbeiter gegangen.

Mit Selbstausbeutung gegen die Diskriminierung: Das Beispiel Rafael Fuster Pardo

Aus unterschiedlichsten Gründen wurde dieses Projekt nicht realisiert. Aber, so viel stand fest, der damalige Direktor Dr. Rathsack hat Fuster Pardo dafür persönlich verantwortlich gemacht, und er fiel bei ihm in Ungnade. Fuster Pardo hat flugs eine andere Idee als Drehbuch geschrieben. „Die Sperber“ erzählt von einer spanischen Familie, die als ehemalige Gastarbeiter zurück in die erste Heimat gehen und dort, wie in Deutschland, Ausgrenzung erfahren. Es sei alles so geschienen, als ob das das Kleine Fernsehspiel im ZDF dieses Projekt mit Fuster Pardo als Co-Produktion mit der DFFB machen wollte. Doch Dr. Rathsack habe dem damaligen Redakteur beim ZDF von Fuster Pardo, aufgrund vermeintlichen Mangels an Dreherfahrung, abgeraten.

In der brieflichen Absage vom ZDF heißt es, „…weil wir Sie vor Ihnen selbst schützen wollen….“ Nur unglaubliche zwei Monate später hat Fuster Pardo „In der Wüste“ mit seinen engsten Kommilitonen und dank Antonio Skarmetas Rechtefreigabe für seine Originalerzählung auf die Beine gestellt. Drehbuchautor Horst Stasiak überließ Fuster Pardo sein Drehetat. Zusammen hatten sie ein Gesamtbudget von 36.000 Mark. Unter selbstausbeuterischen Drehbedingungen und größten Entbehrungen, und das sage ich nicht nur so, entstand dieses wunderbare Werk.

Als der Film fertigstellt war (Montage ebenfalls Fuster Pardo), folgte trotz anfänglicher Schwierigkeiten eine beachtliche Festivalauswertung und eine wohlwollende Besprechung. Aber hinterher gab es trotzdem keinen Kinoverleiher, mit 70 Minuten war der Film für eine Auswertung ein wenig zu kurz. Damals kam auch gerade „40 Quadratmeter Deutschland“ heraus, das war eine starke Konkurrenz, obwohl Tevik Baser eine ganz andere Herangehensweise hatte, wurden die beiden Filme miteinander verglichen.

Heute würde man Tevfik Baser unter Tokenism führen. Er hat sich vor den Karren spannen lassen und die Vorurteile in den Köpfen der Zuschauer bzw. Geldgeber einfach bestätigt. Doch auch hier war ich erstaunt, dass Rafael trotzdem nicht aufgab, sondern mit seinem Regieassistenten einen eigenen Filmverleih gründete und den Film ins Kino brachte. Trotz seiner Tatkraft und seines Schaffensdrangs wurden später alle weiteren Bücher von ihm abgelehnt. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die günstigen Produktionskosten von „In der Wüste“ ihm negativ ausgelegt werden würde? Er erfüllte nämlich die praktisch automatisierten Förderrichtlinien der wirtschaftlichen Filmförderung für Folgeprojekte nicht. Und auf der inhaltlichen Ebene wurden seine Bücher auch abgelehnt.

Fuster Pardo vermutet dahinter Das Kleine Fernsehspiel. Er gab nämlich Interviews, in denen er dem ZDF die Ablehnung für die Sperber ankreidete. In einem durchaus angemessenen Ton zwar, aber wer weiß, was hinter den Kulissen geschah. Für mich ist Fuster Pardos Geschichte jedenfalls ein Skandal, mir fällt da kein anderes Wort ein.

Rafael Fuster Pardo. Foto: Berlinale/Heike Mardo

tipBerlin Sie sprechen in den Anmerkungen zu der Reihe „Fiktionsbescheinigung“ von einer „Zeugenschaft von innen“. „In der Wüste“ hat als Koordinaten Kreuzberg, Chile, Türkei und Katalonien. Wie entsteht die Innenperspektive?

Enoka Ayemba Rafael ist eine nichtdeutsche Person, die Eltern waren Arbeiter, er wuchs in einer Atmosphäre auf, die ihm eine Sicht von Nichtdeutschen gab, einen Internationalismus wie beim Netzwerk Kanak Attak in den neunziger Jahren. Er sieht sich als Außenseiter, er wird nicht als weiß gelesen, aber wir sehen in seinem Film ein Berlin, das dokumentarisch für heute sehr wertvoll ist. Wir sehen Orte, die offen für alle waren, ein Club lässt die beiden Hauptfiguren allerdings auch nicht rein, weil sie als nicht weiß gelesen werden. Seine nicht zustande gekommene Biographie steht für eine Innenperspektive auf Ausschlüsse. Spekulativ könnten wir uns fragen, ob mit einem anderen Namen als Rafael Fuster Pardo eine andere Karriere in Deutschland möglich gewesen wäre. Wir wissen von vielen Regisseur*innen of Color, die nach ihrem Studium an den deutschen Filmschulen ins Ausland ziehen müssten, weil Ihre Projekte in Deutschland nicht akzeptiert bzw. finanziert wurden.

Biene Pilavci, deutsch-türkische Filmemacherin und Schauspielerin, wurde 2012 mit „Alleine tanzen“ bekannt. Foto: Berlinale/Tanja Häring

tipBerlin Mit den Filmen in der Reihe Fiktionsbescheinigung drehen sich die Verhältnisse von innen und außen um?

Biene Pilavci Es gab damals an der DFFB den Begriff Kuchenfilmer. Das waren Filmemacher und -macherinnen, wie Detlev Buck oder Wolfgang Petersen, die von außen so bezeichnet wurden. Jedenfalls ging es darum, dass jene Studierende bewusst nicht politisch sein wollten. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie nicht systemkritisch waren. Auch „In der Wüste“ ist ein systemkritischer Film. Aber er politisiert nicht.

Stattdessen veranschaulicht er sehr unterhaltsam, im positiven Sinne, wie Ausgrenzung, Geldnot, Perspektivlosigkeit und die Sehnsucht nach Liebe und Vertrautheit in Deutschland aussehen kann. Nach seinen eigenen Angaben wollte Rafael Fuster Pardo einfach nur ein Filmemacher sein, der das Handwerk beherrschte. Das ist alles. Er hat sich nicht als Außenseiter gesehen, er wurde aber als solcher eingeordnet. Eine typische Fremdzuschreibung. Er hat keine Betroffenenperspektive angenommen, die so oft von außen oktroyiert wird.

tipBerlin Wie kam die Zusammenarbeit mit dem Berlinale-Forum zustande, wo nun ja schon der zweiten Teil der Reihe „Fiktionsbescheinigung“ mit einer revidierten Filmgeschichte aus Deutschland läuft?

Enoka Ayemba Wir waren am Anfang fünf Personen of Color und wurden wegen unserer Biografien und Erfahrungen von Berlinale Forum gecastet, salopp gesagt. Wir sind seit Jahren in diesem Bereich tätig, haben viele Filmreihen zusammengestellt; ich arbeitete davor schon als Berater für das Forum, Biene macht Filme. Wir sind deutsch, aber nicht nur, und sind unterwegs in mehreren Kontexten. Das war ausschlaggebend dafür, dass wir ausgewählt wurden, um eine Filmreihe zu gestalten, die diese Sichtweisen abbildet. So entstand „Fiktionsbescheinigung“.

Wir zeigen Filme von Menschen, die wie wir nicht nur in deutschen Kontexten unterwegs sind. Wenn wir Filme schauen, reden sie über ein Deutschland, das noch unbekannt ist. Ein Deutschland, das versteckt wird, das nicht gern gesehen wird. Der Begriff Diversität ist in Mode gekommen, hier haben wir aber tatsächlich Diversität. Raoul Peck, heute ein international bedeutender Regisseur, früher ein Student an der DFFB, musste bei seinem Film „Der junge Marx“ dafür kämpfen, dass darin Schwarze zu sehen sind, er musste Überzeugungsarbeit leisten. Diese Diskussion hätte wahrscheinlich nicht stattgefunden, wenn ein Wolfgang Petersen diesen Film gemacht hätte. Menschen von außen haben eine sehr umfassende Sicht auf die Dinge. Wir wollen zeigen: Hey, Leute, das könnte schon anders sein, wir könnten auf die Breite der Gesellschaft hinweisen. Hat mich immer frustriert, ich sitze vor dem Fernseher, aber ich sehe mich nicht.

„In der Wüste“ von Rafael Fuster Pardo. Foto: Berlinale

Biene Pilavci Und du zahlst auch die GEZ-Gebühr. Rafael hat „In der Wüste“ 1987 auch beim Forum eingereicht. Damals gab es zwar ganz andere Sichtungs-Prozeduren, aber Fakt ist, das Paket sei auf eine bestimmte Weise verschnürt worden, so konnte man, laut Fuster Pardo erkennen, dass es ungeöffnet zurückgekommen sei. Wie kam das? Der Leiter der Hofer Filmtage, Heinz Badewitz, habe den Film davor schon für Hof gesichtet, ob zu Ende oder nicht lässt sich heute nicht zurückverfolgen. Jedenfalls, zählte Badewitz, laut Fuster Pardo, zum Umfeld des Sichtungsgremiums vom Forum. Rafael erklärt, dass es nicht viel brauche, um eins und eins zusammenzuzählen. Jetzt nach 35 Jahren gibt es eine kleine Versöhnung.

Und ich muss zugeben, ich sehe seinen Punkt. Wir, die PoCs, haben diese Reihe „Fiktionsbescheinigung“ mit Inhalt gefüllt, wir dürfen jetzt mitmachen, aber es besteht die Gefahr, dass wir Kurator*innen selber ungewollt zu Tokens werden können. Wir wollen Filme in den Kanon hinzufügen. Deswegen muss sich die Reihe im Idealfall selbst wieder auflösen. Aber dafür müssten wie in einer idealen Welt leben.

tipBerlin Wenn man Netflix-Serien wie „Bridgerton“ sieht, in denen Diversität inzwischen eine kommerzielle Agenda geworden ist, versteht man erst, dass es „Fiktionsbescheinigung“ nicht einfach um die Abbildung gesellschaftlicher Vielfalt geht. Es geht auch um eine vergessene Filmgeschichte, denn die produziert ja die ganze Zeit Ausschlüsse: das eine bleibt in Erinnerung, andere Filme gehen unter.

„Ich möchte mich empören“: Biene Pilavci hofft auf eine Revolution

Biene Pilavci Wir leben im Kapitalismus, im Neoliberalismus. Was könnte man ändern, um Deutschland, um die Filmlandschaft gerechter zu machen? Es bedarf einer Revolution. Ich sehe aber kein Beispiel, wo eine Revolution gut ausgegangen ist. Heute ist es so: auch mittelalte, weiße Männer mit einer Vision beklagen sich über alte, weiße Männer, die einfach Erfolgsrezepte mit den entsprechenden Film-Buddies anwenden. Es wird dann schnell relativiert, die Welt sei einfach ungerecht.

Was soll ich mit so einer Aussage anfangen? Sollen wir das so belassen, nur weil es schon immer so war? Ich bin nicht zufällig Filmemacherin, das ist so ein Schlag Mensch. Ich möchte mich empören. Ich kann doch nicht sagen, ja, ok, dann lasse ich das Empören mal und wechsle die Branche. Aber Moment mal, da ist es ja auch ungerecht. Also bleibe ich hier. Nur, weil nicht mal mittelalte weiße Filmemacher mit einer Vision ihre Projekte finanziert bekommen, muss ich doch nicht damit aufhören, die strukturelle Ungerechtigkeit anzuprangern.

tipBerlin Gab es prägende Momente in Ihrer politischen Bewusstwerdung?

Biene Pilavci Ganz klar die rassistischen Anschläge von Anfang der 90er, die haben mich stark politisiert. Ich wurde schon im Kindergarten ausgegrenzt, ich will jetzt keine Anekdoten erzählen und auf meiner Biografie herumreiten, aber es gab zum Teil sehr traumatisierende Ausgrenzungen. Es ist ein menschliches Bedürfnis, das Erlebte zu verarbeiten. Film ist für mich das beste Medium dafür. Doch seit sieben Jahren drehe ich nicht. Ich entwickle eine Serie, von der, grob gesagt, mein Seelenheil abhängt. Weil ich auf dem Weg ihrer Realisierung so viele Neins gehört habe, habe ich mich als jahrelanges stilles Mitglied bei Pro Quote Film zuletzt mehr engagieren wollen, einfach um meine Interessen besser vertreten zu können.

Wir haben uns Aktionen überlegt und wollten zum Beispiel zum 50-jährigen Jubiläum vom „Tatort“ neue Kritiken aus einer radikal feministisch intersektionalen Perspektive zu den alten Schinken schreiben. Dafür wollten wir die Plattform und Reichweite von PQF nutzen. Das war vorher so abgesprochen. Doch plötzlich ist PQF zurückgerudert. Die Kritiken waren den alten weißen Frauen zu kritisch. Nur deshalb habe ich die Initiative „NichtmeinTatort“ mitgegründet. Denn ich wollte mich nicht erneut ausgrenzen lassen. Diese Erfahrung war so prägend für mich, dass ich sogar aus PQF ausgetreten bin. Auch der Entschuldigungsbrief von dem später neu gewählten Vorstand konnte mich nicht überzeugen, zurückzukehren. Stattdessen gründete ich „Neue Deutsche Filmemacher*innen“ mit. Das ist ein filmpolitisches Netzwerk, das auf die Inklusion von People of Color vor und hinter der Kamera wert legt und entsprechend der Bevölkerung eine 30%ige Quote bis 2030 fordert.

Enoka Ayemba arbeitet als Filmkurator und Autor mit Schwerpunkt auf Kinokulturen Afrikas und antikolonialer Widerstand in Berlin. Foto: Berlinale

tipBerlin Gibt es eine Perspektive auf eine Gesellschaft, die keine Ausgrenzungen mehr produziert?

Enoka Ayemba Das wäre auf jeden Fall wünschenswert. Diversität war immer schon da, sie wurde aber nicht gesehen, sie wurde sogar richtiggehend weggesehen. Die ständige Überprüfung des Kanons muss weitergehen. Filme von Regisseurinnen of Color wurden oft auf einen Nenner reduziert, sie sollten etwas repräsentieren, für das sie stehen sollten. Ein Film wie „Der schöne Tag“ vom Regisseur Thomas Arslan, der im Programm „Fiktionsbescheinigung“ zu sehen ist, zeigt aber, wir können viel mehr, als nur unsere Biografie zu vertreten. Nur weil du einen türkischen Namen hast, musst du ja nicht darauf festgelegt werden. Für diese Offenheit wollen wir eine Perspektive zeigen. Ein Potpourri an Themen.

„Wir wurden mit Fassbinder gefüttert“: Enoka Ayemba über sein Studium in Deutschland

tipBerlin Finden Sie auch Aspekte an der „biodeutschen“ oder „kartoffeldeutschen“ Kultur, die Sie interessant finden?

Biene Pilavci Das versteht sich von selbst. Ich bin mit klassischen deutschen Heimatfilmen groß geworden, weil wir Geschwister deutsche Zieh-Großeltern hatten. Wenn unsere Eltern arbeiten waren, passten Oma und Opa auf uns auf. Ich kannte ihre Sehnsucht nach einer heilen Welt im Schwarzwald. Mein Zieh-Opa war ein verletzter tschechischer Soldat, der im Lazarett meine deutsche Zieh-Oma kennengelernt hat, die dort Krankenschwester war. Ich fühlte mich von ihnen geliebt. Aber ich verstand auch, dass sie zweierlei Maß anlegten, wenn sie aus dem Fenster in den Hof die anderen türkischen Kinder als Dubbl-Türken beschimpften.

Als ich später mit zwölf Jahren in ein katholisches Heim gekommen bin, habe ich „Marienhof“ und „Verbotene Liebe“ kennengelernt. Beides fand ich zum Davonlaufen, aber mehr gab es eben nicht. Wirklich interessant war allerdings im Heim, wie ich den anderen Kindern beim Abendbrot zusehen musste, während ich als Muslimin gefastet habe und erst später essen hätte dürfen, doch das war wiederum von dem Heimregeln nicht mehr erlaubt.

Enoka Ayemba Es ist eine interessante Frage, ich habe meine Zweifel, ob eine solche scharfe Trennung möglich oder überhaupt wünschenswert ist. Ich habe an einer deutschen Universität studiert, wo wir mit Fassbinder gefüttert wurden. Ich schaue auf problematische Stellen, ich kann mir das nicht wirklich entspannt anschauen, habe aber trotzdem Lust darauf.

Noch einmal: das Problematische am jetzigen deutschen Filmkanon sind ja nicht vordergründig die Filme, die dazu gehören, sondern die Tatsache, dass viele dazu nicht gezählt werden. Auf diese Schieflage hinzuweisen ist auch ein Ziel des Forum-Programms „Fiktionsbescheinigung“. Wir präsentieren ja deutsche Filme oder Filme, die in Deutschland entstanden sind. Ich persönlich schaue bei der Berlinale gern auch die Filme der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“. Mich interessiert dabei, wie sehr sie die Gesellschaft abbilden, wie sie ist, sprich, ob unterschiedliche Perspektiven vorkommen. In meiner Arbeit zeige ich auch oft Filme von deutschen Regisseur*innen im Ausland und bespreche sie.

„Almans, also auch ich, müssen lernen, nicht immer als richtig machen zu wollen“: Biene Pilavci über die neue Diversitätsbürokratie

tipBerlin Was könnte ein Thema für eine Fortsetzung von „Fiktionsbescheinigung“ sein?

Biene Pilavci Ich wollte es mir verkneifen, lasse es aber doch heraus. Eine der Grenzen bei „Fiktionsbescheinigung“ sind Filmemacher und -macherinnen, die eine diverse Geschichte in sich tragen, die sich aber explizit damit nicht filmisch auseinandersetzen. Es geht ja bei „Fiktionsbescheinigung“ auch und vor allem um Selbstbestimmung. Und dazu zählt für mich persönlich, sich das Recht herauszunehmen, um meinetwegen eine lapidare Romcom zu inszenieren. Denn Rassismus ist anstrengend. Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison sagte sogar, Rassismus ist ablenkend. Er lenkt mich von meinen anderen oder eigentlichen Interessen ab. Und auch das hat Methode und ist vielleicht so gewollt. Ich will das aber nicht. Als Filmemacherin definiere ich mich keinesfalls allein aus Diskriminierungserfahrungen. Ich habe weitaus mehr Interessen, über die ich auch gerne Filme machen möchte.

Doch Filme, die zwar selbstbestimmt, aber in gewisser Weise auch angepasst sind, haben es nicht in unsere Reihe geschafft. Und das ist letztlich auch gut so. Denn das bedeutet für mich ein Ankommen, woanders als bei „Fiktionsbescheinigung“ ankommen, das auch heilsam sein kann. Ein weiteres Thema von „Fiktionsbescheinigung“ könnte die Beobachtung filmpolitischer Prozesse auf die Filme selbst sein. Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, Moin, hat im letzten Jahr ihre Förderrichtlinien an die Diversitätsforderungen in der Branche angepasst. Das ist grundsätzlich löblich und vorbildlich. Aber es weckt in mir die Befürchtung, dass die besonders Ausgefuchsten ihre weißen Stoffe entsprechend den Richtlinien, also ihre Besetzungen vor und hinter der Kamera und auch ihre Inhalte, einfach anpassen. Die Almans, also auch ich, müssen lernen, nicht alles richtig machen zu wollen. Denn am Ende wird es doch wieder falsch, weil es verbessschlimmert wird. Vielleicht ist das der Einfluss des Kapitalismus, der aus allem immer eine Nische macht.

  • Der Film „Durch die Wüste“ (1987) von Rafael Fuster Pardo wird bei der Berlinale am 16. und am 18. Februar gezeigt. Zu beiden Vorführungen gibt es noch Karten, mehr Infos hier

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