„La ligne“ (Die Linie) heißt der neue Film der französisch-schweizerischen Filmemacherin Ursula Meier, der im Wettbewerb der Berlinale 2022 seine Premiere feiert. Unsere Autorin Alexandra Seitz hat sich das Familienpsychogramm angesehen: Schon das Schauspiel verdient den Besuch, findet sie – und ist begeistert von der erzählerischen Nonchalance der Regisseurin.
„La ligne“: Ein Angriff mit Vehemenz
Das geht schon mal krachend los: Flaschen, Schallplatten, eine Blumenvase zerschellen an der Wand, dann ein Schwenk in den Raum, in dem eine ganze Familie ein Ballett der handgreiflichen Auseinandersetzung aufführt: Entsetzte, wutverzerrte Gesichter, aufgerissene Münder, entfesselte Körper und Gewalt, Gewalt, Gewalt. Das alles in einer leichten Zeitlupe gezeigt und untermalt von wohltemperierter, angenehmer Musik.
Ein fulminanter Einstieg in „La ligne“. Denn natürlich will man nun wissen, was da eigentlich genau passiert ist. Beziehungsweise wie es dazu kam, dass eine Tochter ihre eigene Mutter mit derartiger Vehemenz angreift, dass ein Richter sich dazu genötigt sieht, ein Annäherungsverbot zu verhängen. Hundert Meter Abstand muss Margaret, 35 Jahre alt, vom Haus ihrer Mutter Christina, 55 Jahre alt, halten, was auch bedeutet, dass sie ihre temporäre Unterkunft in der Garage (!) verliert. Margaret geht zurück zu ihrem Ex, der ihr seine Türe nur mit größter Überwindung öffnet.
Allein schon das Schauspiel lohnt den Besuch von „La ligne“
Was ist los mit dieser Frau, die in der Folge damit fortfährt, wie ein sturer, alter Bock gegen Begrenzungen aller Art anzurennen? Vor allem findet sie sich nahezu täglich am Rand des Bannkreises ein, den ihre 12-jährige Schwester Marion mit hellblauer Farbe um das Mutterhaus gezogen hat. Dort drinnen sitzt sie, wie die Spinne im Netz, die ziemlich spinnerte, ungemein selbstverliebte, immer mal wieder hochnotpeinliche, ehemalige Konzertpianistin, die mutmaßlich ihr gerüttelt Maß zum Missraten der ältesten Tochter beigetragen hat.
Valeria Bruni Tedeschi spielt diese Frau mit sichtbarem Genuss an der gerade noch so vertretbaren Übertreibung als eine explosive Mischung aus Prinzessin und Hexe. Ihr gegenüber steht Stéphanie Blanchoud, die Margaret nach Außen wie eine permanent geballte Faust wirken lässt, während sie im Inneren an ihren eigenen masochistisch-suizidalen Impulsen zu verzweifeln droht.
Allein schon das Schauspiel in diesem Film lohnt den Besuch. Noch mehr aber die meisterliche Nonchalance, mit der Meier ihr Familienpsychogramm in einer Perlenschnur aus Momenten entwirft. Ereignis für Ereignis ist klar umrissen und jedes für sich erzählt von einer Welt, in der das gekränkte Gefühl auf Linderung hofft und das Menschenwesen sich nach Anerkennung sehnt. Und nach jener Liebe, die es in der Familie nicht gibt. Jedenfalls nicht in dieser – die doch wiederum in ihren Verdrängungsroutinen eine ganz normale ist.
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