Berlinale 2022

„Les passagers de la nuit“ mit Charlotte Gainsbourg: Endlich Alltag

Wer nachts nicht schlafen kann, sollte Radio hören. Das wäre zumindest eine Lektion aus dem Film „Les passagers de la nuit“ von Mikhaël Hers. Darin spielt Charlotte Gainsbourg eine Frau, die eine Familie zusammenhalten soll, und dafür gar nicht so gut geeignet scheint. tipBerlin-Kritikerin Susanne Stern hat sich gefreut, nach einigen Filmen mit großen Themen auch mal wieder einen Film mit Alltag zu sehen. Alltag in Paris ist ja sowieso immer was Besonderes.

Charlotte Gainsbourg in „Les passagers de la nuit“ von Mikaël Hers. Foto: Nord-Ouest Films, Arte France Cinema

Schritte aus einem verpeilten Leben in ein besseres: „Les passagers de la nuit“ von Mikhaël Hers

Die Dramen der Wettbewerbsfilme der Berlinale spielen sich nicht nur im globalen Süden ab, und nicht immer geht es um Leben und Tod. Manchmal genügt auch etwas, das sich für die Betroffenen so ähnlich anfühlt. Mikhaël Hers erzählt in seinem Film „Les passagers de la nuit“ vom Ende und Neuanfang einer Familie in einem der Hochhäuser in einem Viertel von Paris, das Touristen nie besuchen. Charlotte Gainsbourg spielt Elisabeth, eine gerade von ihrem Mann verlassene Frau mittleren Alters, die nun allein ist mit Sohn und Tochter im Teenageralter. Sie hat noch nie gearbeitet und hat das schlechte Gefühl, dass sie für die Arbeitswelt und fürs Leben allgemein zu zerstreut und zu sensibel ist – ihren ersten Job verliert sie, weil sie gleich mal abends vergisst, die Daten des Tages zu sichern.

Mikhaël Hers, der Regisseur von „Les passagers de la nuit“. Foto: Emile Dubuisson/2021 Nord-Ouest Films

Der Film beginnt mit diesem Gefühl einer Verlorenheit, die man auch in den Bildern sieht – anfangs sind Perspektiven und Erzählrhythmus wackelig und durcheinander, eine Übersetzung von Elisabeths Gefühl von „neben der Spur“. Die Kamera und das Leben der Protagonistin finden einen neuen Fokus durch zwei unspektakuläre Schritte: Ein Brief an ihre Lieblingsradiosendung „Les passagers de la nuit“ verschafft Elisabeth einen Job bei der Moderatorin (Emmanuelle Béart). Und die junge Obdachlose Talulah (Noée Abita), deren Schicksal Elisabeth so rührt, dass sie sie zu sich nach Hause einlädt, bringt Dynamik in die übriggebliebene Dreierfamilie.

Charlotte Gainsbourg berührt als unsichere Hauptfigur, die nie schläft, sich nicht viel zutraut und doch immer wieder die Kraft für den nächsten Schritt findet – ein Lebensgefühl, das vermutlich vielen Zuschauenden näher ist als die außergewöhnlichen Erfahrungen, von denen die meisten anderen Wettbewerbsfilme handeln. Schön ist, wie glaubwürdig Hers, der auch das Drehbuch mitschrieb und schon in seinem vorherigen Film „Mein Leben mit Amanda“ die Neuordnung einer erschütterten Familie thematisierte, die neuen Begegnungen im Leben Elisabeths inszeniert – beiläufig, mit Understatement, aber in vielen scheinbar alltäglichen Momenten passiert in Wahrheit eine große Veränderung.

Wieviel die Anerkennung der neuen Kollegen bedeutet, welchen Mut es kostet, sich wieder zu verlieben, wie viele kleine Schritte es braucht, bis das Leben wieder fließt – wir sehen es in den Gesichtern und hören es am Score von Anton Sanko. Nebenbei ist der in den 80er-Jahren spielende Film eine Liebeserklärung ans Radio, das so manchem Schlaflosen durch die Nächte hilft.


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